Die Überwachungskamera mißtraut dem Menschen. Das Mißtrauen ist überhaupt ihr ganzer Daseinsgrund. So auch in dem gigantischen Supermarkt in Montevideo, in dem Wachmann Jara arbeitet – sitzend vor dem Monitor, auf dem endlose Waren-Fluchten und ein paar vereinzelte Mitarbeiter zu sehen sind. Nur in der Kantine sitzen diejenigen mit den Uniformen, die mit den Schürzen und die mit den Hemdkragen im selben ungesunden Neonlicht. Nicht gerade eine romantische Atmosphäre.
Und dennoch gelingt es GIGANTE, die Voraussetzungen komplett umzukehren. Das Auge des Überwachers wendet sich seinem Objekt mit Liebe zu, als die Putzfrau Julia rückwärts in eine riesige Produktpalette stolpert und unter ihr begraben wird. Das ist aber kein Verrat an der Wirklichkeit. Dieser Film ist eben so wunderbar, weil er ganz diskret die Balance hält zwischen den beiden Realitäten, der sozialen und der utopischen. Jara selbst ist die Schnittmenge: dieser Koloß, der auf den ersten Blick überhaupt nicht zum Filmhelden taugt und immerzu Hardrock in sein Ohr speist. Daß er aber auch ein großes Herz hat, daran läßt der Film keinen Zweifel. So zappt er etwa bei kleinen Delikten auch mal unauffällig weg. Er weiß: Wer klaut, fliegt.
Fortan erzählt die Überwachungskamera die Geschichte einer Verliebtheit. Sie folgt Julia durch alle erfaßbaren Orte des Supermarktlabyrinths, bis Jara schließlich selbst vor die Kamera tritt und damit aus der ihn isolierenden Anonymität. Daß Jara seine Observation auch auf die Straße verlagert, quasi um den großen toten Winkel des Privatlebens zu erschließen, macht ihn eindeutig zum Voyeur und Stalker. Doch erstaunlicherweise hat es kaum etwas Krankhaftes oder auch nur Obsessives, wie im französisch-spanischen ALLES ÜBER LOLA. Längst hat sich der Zuschauer an die Perspektive des sanften Riesen geschmiegt.
Aber auch Adrian Biniez’ feinfühlig-lakonischer Humor hat seinen Anteil daran. Ähnlich wie Aki Kaurismäki arbeitet er viel mit festen Kameraeinstellungen. Damit überträgt er formal das Prinzip der Überwachungskamera ins matte Sonnenlicht der Stadt. Doch es ermöglicht ihm auch ein fast beiläufiges Erzählen, quasi am Wegesrand. Und ganz nebenbei auch noch ein kleines Porträt Montevideos. Der Überraschungserfolg der Berlinale ist ein besonders schönes Beispiel dafür, daß das südamerikanische Kino in den Startlöchern steht.
Originaltitel: GIGANTE
Uruguay/Argentinien/D 2008, 84 min
FSK 6
Verleih: Neue Visionen
Genre: Liebe, Poesie
Darsteller: Horacio Camandulle, Leonor Svarcas
Regie: Adrián Biniez
Kinostart: 01.10.09
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...