Originaltitel: GIRL

Belgien/NL 2018, 105 min
FSK 12
Verleih: Universum

Genre: Drama

Darsteller: Victor Polster, Arieh Worthalter, Valentijn Dhaenens

Regie: Lukas Dhont

Kinostart: 18.10.18

5 Bewertungen

Girl

Weil ich ein Mädchen bin

So sieht Zärtlichkeit aus, und so fühlt sie sich auch vor der Leinwand an: Ein Bub namens Milo weckt seine ältere Schwester Lara, geradezu schwebende Musikkulisse umtupft entspanntes Rumalbern, Kichern und Kitzeln. Nächste Szene, das offenbar unerschrockene Mädel hat sich selbst Ohrlöcher gestochen, Vater Mathias beobachtet’s mit einiger Sorge, kennt aber den Sturkopf seiner Tochter, hakt nicht weiter nach. Und schon ist man mitten in einer kleinen Familie, deren fehlende Mutter nie zur Sprache kommt, allerdings gleichfalls nirgends vermißt wird, das Trio ist füreinander da, okay und Schluß.

Eben gelang es Lara, eine Probezeit an der staatlichen Ballettschule zu ergattern, als Ballerina möchte sie irgendwann tanzen. Um jeden Preis, total egal, daß er blutige Füße und Erschöpfungsanfälle inkludiert, strenge Lehrerinnen und weit überschrittene Schmerzgrenzen. Die Geschichte eines Lebenstraums also, vor dessen bloß eventueller Erfüllung eine knochenharte Tortur liegt, wozu unstete Handkamera gut paßt, allgegenwärtige Hektik und Anspannung untermalt.

Dazu hat BLACK SWAN nun jedoch alles Nötige gezeigt, weswegen GIRL einen anderen Ansatz verfolgt: Lara, knapp 16 Jahre jung, steht kurz vor einer Geschlechtsumwandlung, heißt eigentlich Victor und klebt täglich das ungewollte Geschlecht ab, gegen Mathias’ und ärztlichen Rat. Es geht der Jugendlichen ch viel zu gemächlich voran, die Hormone wirken langsam, der falsche Körper drückt auf die Seele. Diese Lara bekämpft Ängste und Unsicherheiten, ihr fehlt der gern genommene Heldinnen-Status, es berührt zutiefst, wenn sie ganz bei sich bleibt: „Ich will kein Vorbild sein. Ich will nur ein Mädchen sein.“

Folglich richtet das Drama seinen Fokus auf Laras Innere, hinterfragt, was in einem so jungen Menschen geschieht, dessen Anspruch an ein „richtiges“ Leben gleichzeitig völlig normal und zu belastend für solche schmalen Schultern scheint. Zumal pubertäre Rebellion das chaotische Gefühlszentrum Heranwachsender zusätzlich auf allerlei Suchen schickt, weswegen Lara dem sie immer unterstützenden alleinerziehenden Vater oft die kalte Schulter zeigt. Sie gegen den Rest der Welt ...

Welche sich derweil sukzessive verdüstert. Anfangs überrascht noch die Lara gewährte Akzeptanz, bis eine meisterliche Szene das wackelige Toleranzgerüst geradewegs zum Einsturz bringt: Lara und Mitschülerinnen üben im Pool, wer genau hinschaut, bemerkt es – alle tragen einen Bikini, Lara planscht hingegen im Einteiler. Hier nackte Haut, stolz zur Schau gestellt, dort bestmögliche Verhüllung. Lara: eine Außenseiterin, ein Neugier heraufbeschwörendes Anschauungsobjekt, ein zur Lächerlichkeit dienendes Spielzeug. Es folgt die volle Härte fieser Erniedrigung. Das einst empfangene Kompliment „Ich sehe eine schöne, tolle Frau!“ hat, obwohl es die Wahrheit spricht, keinerlei Gewicht mehr. Lara trifft eine Entscheidung.

Die letzten knapp sieben Minuten graben dann tief und rumoren heftig – im Magen, im Herzen, im Geist. Es obliegt Schauspieldebütant Victor Polster, Laras Verzweiflung, Wut und Ohnmacht final zu bündeln, ihre Emanzipation ebenso, das Fallen, Aufrichten. Allein über nonverbale Wege, stumm herausschreiend, ohne ein einziges gesprochenes Wort. Absolut konsequent, denn jene filmgewordene Tour de Force raubt dem Zuschauer schlicht die Sprache.

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...