Originaltitel: PRESQUE
F/CH 2021, 92 min
FSK 6
Verleih: X Verleih
Genre: Tragikomödie
Darsteller: Bernard Campan, Alexandre Jollien, Tiphaine Daviot, La Castou
Regie: Bernard Campan, Alexandre Jollien
Kinostart: 02.06.22
Auf die Frage, was er arbeite, antwortet Louis, er sei Bestatter und „eigentlich kippt die Stimmung, wenn ich es sage.“ Igor kontert: „Ich muß gar nichts sagen, um die Stimmung kippen zu lassen.“ Warum? Wir haben es längst gesehen, Igor trägt tapfer an seinen körperlichen Beeinträchtigungen, einer zerebralen Lähmung aus dem Mutterleib. Es wird dieser Ton im Humor sein, der GLÜCK AUF EINER SKALA VON 1 BIS 10 trägt, dabei nie die Grenze hin zur Albernheit überschreitet, aber Situationen auskostet und ja, auch die Balance hin zur Tragik sicher zu finden weiß. Es liegt an der personellen Konstellation.
Dabei wird das Lastenfahrrad gar nicht neu erfunden. Man nehme zwei sehr unterschiedliche Männer, die wie Brüder scheinen. Louis, irgendwas mit 50, Igor mit 30. Man läßt sie per Unfall erst aneinander-, dann zusammenprallen und schickt sie gemeinsam auf eine Reise von A nach C, weil es auch ein B gibt, das dazwischen liegt. Es darf sich entwickeln, was in Filmen oft und gern als besondere Freundschaft behauptet wird. Hier ist es eine.
Louis streift mit dem Auto diesen ansteckend freundlichen Gesellen, der gerade wieder unterwegs war, um per Pedale Franzosen mit Biogemüse zu beglücken. Als Igor im Graben zu sich kommt, ist seine größte Sorge, daß es hier Füchse gibt. Louis, ein routinierter Privatunternehmer in Sachen letzte Reise, trägt reflexartig schwer an der Tatsache, daß er ausgerechnet einen „Behinderten“ mit seiner Unachtsamkeit vom Gefährt gewippt hat. Igor aber liefert keinen Grund dafür, im Gegenteil. Seine Milde ist sensationell. Allerdings entwickelt er klettenhafte Züge, Louis bekommt ihn gar nicht mehr los, nicht mal, als die längere Überführung zweier Verstorbener – einmal Urne, einmal Sarg – mit einem liegenden „metaphysischen Experiment“ beginnt. Igor will das Sterben üben und präsentiert darüber hinaus sein Faible für Philosophie, zitiert die alten Griechen, Stoiker, Nietzsche und wird das GLÜCK AUF EINER SKALA VON 1 BIS 10 mit der großartigen Metapher veredeln, wonach das Leben ein Bindestrich sei und der Bindestrich ein Zug.
Ein feiner Film! Ein Fall des Glücks! Kein Wunder am Ende, wenn man weiß, daß es ein strikt persönliches Werk von Bernard Campan und Alexandre Jollien ist – Hauptdarsteller, Drehbuchautoren, Regisseure, Freunde. Einzig Jollien ist wirklich Philosoph, Campan dafür nun wirklich kein Bestatter.
[ Andreas Körner ]