Profunde Fragen hat sie schon immer gestellt, die Ausnahmeregisseurin Doris Dörrie. Nach der Schönheit, dem Nacktsein, der Liebe sowieso und der Männlichkeit außerdem. Dieses Mal schießt aus einem Frauenmund eine Fragenkaskade direkt ins Publikum: Wie, warum, wieviel? Es geht darum, wie man wann was im Leben richtig macht, ob man glücklich ist, genug verdient, und wie tief ein Mensch fallen kann. Das knallt schon rein, aber weil man sich bei Doris Dörries besseren Filmen (und GRÜSSE AUS FUKUSHIMA ist einer ihrer schönsten überhaupt, so viel vorweg) niemals in Seelenstrips verwickelt sieht, gibt es keine Antworten aus dem Sachbuch der Küchenpsychologie.
Dafür umwerfende Schwarzweiß-Bilder, teils von bizarrer Schönheit: Der Schnitt vom Galgen im deutschen Wald, der für Maries verpatzte Hochzeit steht, zur krachig lärmenden U-Bahn in Tokio und mühsam komischen Clownsauftritten in Fukushima, die für einen Neuanfang taugen sollen, gehört dazu. Ausgerechnet im Strahlengebiet, ausgerechnet mit Faxenmachen in viel zu großen Schuhen – ein Neustart könnte heiterer plaziert sein, wenn man denn von Verzweiflung nichts versteht. Und genau darin zeigt sich das große erzählerische Talent von Dörrie, sie weiß um die Melancholie, der jede Weinerlichkeit fremd ist. Maries Ausbruch, ihr Versuch, von sich abzulenken und den wenigen verbliebenen Alten im Strahlengebiet durch Hampelei und Artistik ein wenig Spaß zu bereiten, ist voller Traurigkeit, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Sie hat die Ferne gesucht, um sich besser zu fühlen, allein, weil es anderen noch schlechter geht. Das durchschaut die ruppige Satomi, die einige Habseligkeiten zusammenpackt und sich von der Deutschen in ihr ehemaliges, nach Tsunami und Reaktorunglück zerstörtes Zuhause zu fahren. Um aufzuräumen und um, wie sich bald erweisen wird, ganz ähnlich Marie den alten Geistern zu Leibe zu rücken.
Eine schöne Paareskonstellation, die Dörrie da ersann: die alte Geisha, deren Eleganz häufig von einer Mürrischkeit und Angst zugekleistert scheint, die große, poltrige Deutsche, die aber beharrlich dazulernt, die erstarrten Alten aus Fukushima, die, wenn überhaupt, erst seit kurzem wieder lächeln können. Dörrie erzählt vom Aufräumen, dazu gehört auch eine besondere, durchaus auch zum Amüsement gereichende Art, das alte zerstörte Haus zu fegen, sie weiß um die Kompliziertheit einer Neuausrichtung, des Abwerfen schweren Gepäcks, welches man doch zu lange auf dem Buckel schleppte. Es geht um Kompensation schmerzlichen Verlusts und tiefer Schuld. Und da sind die beiden unterschiedlichen Frauen tatsächlich sehr nah beieinander.
Und noch einmal zu den Bildern: Dörrie und ihr Kameramann Hanno Lentz gelingt es, dem Infernalischen ureigene Schönheit und eigenwilligen Zauber zu entlocken. Die leeren Orte erinnern an Geisterstädte aus alten Western, die aufgetürmten Plastesäcke, voll mit radioaktiver Erde, scheinen wie Pyramiden der Maya-Kultur. Und auch durch dieses gewisse Maß an positiver Metaphorik taugt der bittersüß betitelte Film durchaus zu einem zumindest zarten Hymnus der Neujustage. Selbst wenn die Farben bereits aus dem Leben fließen.
D 2016, 103 min
FSK 12
Verleih: Majestic
Genre: Drama
Darsteller: Rosalie Thomass, Kaori Momoi, Moshe Cohen
Regie: Doris Dörrie
Kinostart: 10.03.16
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.