Originaltitel: HAPPY END

F/D/Österreich 2017, 107 min
FSK 12
Verleih: X Verleih

Genre: Drama

Darsteller: Isabelle Huppert, Jean-Louis Trintignant, Mathieu Kassovitz, Fantine Harduin, Franz Rogowski

Stab:
Regie: Michael Haneke
Drehbuch: Michael Haneke
Kamera: Christian Berger

Kinostart: 12.10.17

9 Bewertungen

Happy End

Gestohlene Blicke, verstohlenes Schweigen – eine wundersame Unsicherheitsvermehrung

Es war einmal eine Familie. Die bewohnte in Calais ein gepflegtes Anwesen und betrieb ein einigermaßen einträgliches Baugewerbe, zur Zeit der Fußball-Europameisterschaft 2016, nicht weit von der als „Dschungel“ bekannten Zeltsiedlung für Flüchtlinge. Halt. Um etwas Angemessenes zum neuen Film von Michael Haneke sagen zu können, muß man anders beginnen. Vielleicht bei Roland Barthes und dessen Bemerkungen zum paradoxen Wesen des Kamerablicks, in dem Sehen und Beachten getrennt, aber ohne einander nicht fruchtbar würden. Oder in Hanekes älteren Filmen, etwa CACHÉ, die den Blick selbst zum Thema, ja zum Handelnden machten. Oder bei der verbreiteten Annahme, daß der Kinematograph ein Apparat sei, der einen zur Faulheit verführt, weil man die eigenen Augen eine Weile schonen und die seinen gebrauchen dürfe.

HAPPY END ist kein Film für Faule. Schon weil man den Augen, die in diese Familie Laurent hineinblicken, nicht trauen kann. Wer zum Beispiel bedient jene Handykamera, die im Vorspann einer noch nicht einmal offiziell vorgestellten jungen Frau bei der Abendtoilette zusieht? Pinkeln, Zähne putzen, ausspucken, nachspülen – und ab ins Off. Wer ist verantwortlich für die Smartphone-Bilder von diesem Meerschweinchen im Käfig? Bei wem muß man sich erkundigen, was das Tier hier zu suchen hat, wo es doch um die „Momentaufnahme einer bürgerlichen europäischen Familie“ gehen soll?

Wohin schaut dieser britische Geschäftsmann, der offenbar regelmäßig beruflich in Calais weilt und zu Anne, dem geschäftsführenden Haupt der Laurent-Dynastie, wohl auch private Beziehungen unterhält? Aha, er guckt in den Fernseher – und der guckt zurück, mit Nachrichten von Anti-Shell-Protesten. Anders gesagt: Es gibt einiges zu tun. Bilder, Stimmen und Perspektiven sortieren, eine „ordentliche“ Grundlage schaffen, auf der sich weiterarbeiten läßt.

Nach und nach erhalten die Figuren Gesichter, Namen, Funktionen, setzen sich zueinander in Beziehung, wenigstens verwandtschaftlich. Denn die emotionalen Bande, die man der „Keimzelle der Gesellschaft“ immer noch nachsagt, flattern weiter lose. Immerhin finden sich die Laurents zum Abendessen zusammen, freilich mit unterschiedlicher Leidenschaft für das gesellige Ritual. In der Mitte der greise Großvater Georges, dessen altersbedingten Wunderlichkeiten man mit Geduld begegnet. Oder ist es eher höfliche Herablassung?

Daneben sitzen seine Tochter Anne, wenn die Geschäfte es erlauben, sein Sohn Thomas mit zweiter Ehefrau, manchmal sein Enkel Pierre, wenn der sich nicht irgendwo die Wut aus der Seele tanzt – und plötzlich dieses irritierend stille Mädchen. 13 sei sie, gibt Ève brav Auskunft. Sie wird die Frage wieder und wieder beantworten müssen, denn Georges kann sich die Zahl nicht merken, noch nicht einmal, wie genau Ève eigentlich zur Familie gehört. Ansonsten wird viel geschwiegen, manchmal sogar mit Worten.

HAPPY END ist kein fauler Film, denn er verfolgt sein Ziel mit Fleiß und nach Plan. Haneke wirft mit Kamerablicken nicht einfach nur um sich. Er trifft – den Bourgeois in seiner Selbst- und Weltgewißheit, in seinen versicherten Refugien, in seiner Blindheit für den Anderen. Und er schickt ihm Prüfungen: schlechtes Benehmen, kleine Unfälle, ungeladene Gäste und ausgesprochene Wahrheiten. Er bleibt also ein Bürgerschreck, auch wenn man das dem inzwischen Mitte 70jährigen und manchen seiner Arbeiten nicht sofort ansieht. Sie umgibt bei aller noch so stürzenden Abgründigkeit immer auch etwas Kultiviertes, im Denken wie in den Bildern, und zwar ohne kinematographische Angeberei.

Hanekes Filme haben sich dabei stets auch zum Gesamtorganismus Kino verhalten. Hier verhält er sich zu sich selbst, zu Grammatik, Rechtschreibung und Ausdruck des eigenen Werks. Dazu gehört das wie ein Code wiederkehrende Namenspaar Georges-Anne, gespielt und mit Verweiskraft ausgestattet von Jean-Louis Trintignant, dem Liebenden aus LIEBE, und Isabelle Huppert, der KLAVIERSPIELERIN aus dem Jelinek-Universum.

[ Sylvia Görke ]