Haley wischt Fingerabdrücke von Gläsern. Sie löscht ihre Spuren, professionell, routiniert. Sie tut dies nicht zum ersten Mal, so viel ist klar. Wenn HARD CANDY diesen kurzen Moment der Rast erreicht, hat der Zuschauer eine schockierende, atemlose Stunde hinter sich. Vom ersten Moment an stellt sich Unruhe ein. Die Leinwand protokolliert einen Chat, der sich vom Unverfänglichen zur anzüglichen Balz entwickelt. Bald darauf stehen sich Haley und Jeff in einem Café gegenüber, sie gerade einmal 14, er über 30. Schon da fürchtet der Zuschauer, daß diese Verabredung aus dem Lot geraten wird. Er hat ja keine Ahnung.
Jeff ist erfolgreicher Fotograf, sein Eigenheim ein eleganter, edler, steriler Designertraum, dekoriert von Bildern junger Mädchen in nymphengleichen Posen. Es ist gleichzeitig sein Fotostudio, und ein paar Cocktails später zückt Jeff die Kamera. Er kommandiert Haley, wird barsch, als ihm plötzlich die Sinne schwinden. "Trink nur, was Du selbst gemixt hast!" - ein Rat, den man sich zu Herzen nehmen sollte. Jeff erwacht an einen Stuhl gefesselt, während das eben noch harmlose Mädchen mit kalter Präzision sein Haus nach Kinderpornos durchsucht. Ein anderes Mädchen wurde entführt, vergewaltigt, ermordet, und Haley ist überzeugt, daß Jeff damit zu tun hat.
Selten unterwanderte jemand die Moral des Zuschauers so radikal und perfekt, wie es Drehbuchautor Brian Nelson und Regisseur David Slade in ihrem Geniestreich tun. HARD CANDY steht im Internet-Jargon für ein minderjähriges Mädchen. Süß ist sie tatsächlich, diese Haley, knallhart aber auch. Sie findet schließlich in Jeffs Safe, wonach sie gesucht hat, der Zuschauer wird es nicht sehen, doch er wird Zeuge, wie das Mädchen sich nun den OP-Kittel überstreift, um an Jeff einen kleinen operativen Eingriff vorzunehmen, in seinem eigenen Interesse versteht sich. Die Kastration soll ihm helfen, jene Sehnsucht nach Mädchen in den Griff zu bekommen, die mit Moral und Gesetz kollidiert.
Immer wieder wendet sich das Blatt, Jeff wird sich befreien, es wird zum Kampf kommen. Mit wem soll der Zuschauer nun sympathisieren? Mit der minderjährigen Furie Haley, in der Lolita-Phantasien und Entmannungsängste eine unheilvolle Liaison eingegangen sind, oder mit dem vermeintlichen Saubermann Jeff, der mehr verbirgt, als man anfangs ahnt? Es ist die starke Leistung der Macher, rigoros die Balance zu wahren, mit Unklarheiten und offenen Fragen die Verunsicherung immer stärker zu schüren. Visuell findet sich nichts Anstößiges, die Provokation kleidet sich in ästhetisch anmutige Bilder und konfrontiert den Zuschauer mit Rechtfertigungskonstrukten für die eigenen Schlupflöcher in Moral und Gesetzbuch. "Sie wollte es doch auch, sie ist sehr reif für ihr Alter, ich hab sie nur gewähren lassen." - Haley kennt die Argumente nur zu gut ... Beim Kräftemessen bleibt der Beigeschmack des Kalkulierten nicht aus, und das ist gut so.
HARD CANDY ist ein Experiment, eine Stellprobe des Ernstfalls. Die Figur der belesenen, schneidend intelligenten und skrupellosen Haley entspringt einer finsteren Phantasie, doch Ellen Page haucht mit ihrer furiosen Leistung diesem halbwüchsigen Alptraum Wahrhaftigkeit ein. Patrick Wilson liefert ihr in der Rolle des erlegten Jägers Jeff einen kraftvollen, fast sympathischen Gegner. Wenn Haley in den gleißenden Sonnenuntergang zieht, einen zweifelhaften Triumph im Gepäck, dann hat der Film nichts mehr mit dem landläufigen Geschichtenerzählen gemein.
Nun entfaltet HARD CANDY erst richtig seine Wirkung - mit dem Raunen des Publikums, in den erhitzten Debatten, die folgen und im eigenen moralischen Halbdunkel, das nun einen neuen Feind bekommen hat - die äußerste Verunsicherung.
Originaltitel: HARD CANDY
USA 2005, 103 min
Verleih: Senator
Genre: Thriller, Psycho
Darsteller: Patrick Wilson, Ellen Page
Regie: David Slade
Kinostart: 29.06.06
[ Roman Klink ]