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Holy Motors

Was bin ich und wenn nein, wieso? Ein Gestaltwandler in der Sinnkrise

Leos Carax hat sich rar gemacht im Kino, nicht ganz freiwillig, wie man nachlesen kann. Von steckengebliebenen Projekten ist die Rede, von einigen unvollendeten, denen die finanziellen Mittel, die richtigen Unterstützer oder einfach der lange Atem ausgingen. Ideen allerdings gibt und gab es wohl immer zur Genüge. Nun sieht es so aus, als habe der endlich von der Kette gelassene Regisseur sie gleich alle auf einmal realisiert, sicherheitshalber, und zwar im selben Film. Wie eine Frau Holle auf Schnee lehnt sich Carax aus dem Himmel über Paris und schüttelt seine Zettelkästen, Gedankenkörbe und Skizzenhefte aus, ganz zu schweigen von den vollgeträumten Kopfkissen, unter denen so manche Lektüre, bestimmt sogar ein Filmlexikon gelegen haben muß.

Noch im Hinabflattern scheint das Sammelsurium zu überlegen, was es einmal werden will, wenn es unten aufschlägt. Ein Prinz? Ein Frosch? Weil aber, wenigstens in diesem Fall, die Schwersten auch die Ersten sind, materialisiert sich zunächst ein von Kafka und Borges inspirierter Prolog um einen Mann im Schlafanzug, der durch eine in der Wand verborgene Tür unvermittelt in einem Kinosaal landet. Daneben ist inzwischen eine weiße (später stellt sich heraus sprachbegabte) Stretch-Limousine samt Chauffeurin niedergegangen, die Monsieur Oscar von einem Termin zum nächsten kutschiert. Madame Céline macht sich Sorgen um ihren Fahrgast, und das mit Recht. Denn Monsieur steckt in einer beruflichen Krise. Aber wem ginge das anders, hätte er wie dieser Auftragsmetamorph alle naselang Alter, Biographie oder Geschlecht zu wechseln …

Holy Motors? Heiliger Bimbam! Dieser kombinierte Limousinen- und Identitätenservice reitet nicht mit Pferdestärken, sondern auf unwuchtigen Kanonenkugeln. Immer neue phantasmagorische Miniaturen spuckt er aus: ein mit Lichtpunkten markiertes Körperdouble, das einer Animationsfigur vor dem Greenscreen die Vektordaten tanzt. Ein blutrünstiger Zwitter aus Klein Zaches und König Ubu, der auf den eingängigen Namen Merde hört. Ob aber Messerstecher, Bettlerin oder siecher Onkel – zwischen Haarteilen und aufgepflanzten Zahnfassaden blickt man stets in dieselben Augen. Sie gehören Denis Lavant, der mit Ausnahme von POLA X sämtliche Langfilme von Carax bespielte und als dessen offizielle Muse gelten darf. Ja, über dieses Gesicht, über diesen Artisten- und Gauklerkörper läßt sich nach wie vor trefflich extemporieren, zumal er seinen Ursprüngen im Straßentheater selten näher gekommen sein dürfte als hier.

Stellen wir Carax’ neoromantischem Kunstmärchen, dem sich die wuchernden Arabesken in verschwurbeltster E.T.A.-Hoffmann-Manier um die eigenen Füße schlingen, die ultimative Hannibal-Lecter-Frage: Was ist es (wenn es sich im autoerotischen Überschwang nicht auffrißt) in sich selbst? Totale Bedeutungsimplosion? Völlige Sinnverweigerung? Ein spektakulärer Parabelunfall, bei dem Knight Rider, Fantômas, MATRIX und MISSION: IMPOSSIBLE auf offener Strecke zusammenrauschen? Die einen sagen so, die anderen so – und meinen vielleicht sogar dasselbe.

Originaltitel: HOLY MOTORS

F/D 2012, 115 min
FSK 16
Verleih: Arsenal

Genre: Experimentalfilm, Schräg

Darsteller: Denis Lavant, Eva Mendes, Kylie Minogue, Michel Piccoli

Stab:
Regie: Leos Carax
Drehbuch: Leos Carax

Kinostart: 30.08.12

[ Sylvia Görke ]