Ein Boot voller Menschen erreicht die Küste von Italien, Ai WeiWei reicht Tee, spendet warme Worte, dann stellt er Fragen. Weil er in seinem gesamten 140minütigen monumentalen Flüchtlingskrisenepos nicht einmal sein Smartphone oder die Kamera zur Seite zu legen scheint und so ein gigantisches Archiv anlegt, stellt er – bewußt oder auch nicht – die Frage nach dem „Material“ Flüchtling.
Es ist jedoch zu einfach, sich moralisch zu erheben, dem weltweit bekannten Künstler und Regimekritiker wieder einmal Pietätlosigkeit zu unterstellen – einen großen medialen Aufschrei verursachte er, als er den Tod des Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi nachstellte. Sicherlich steht Weiwei mittlerweile selbst für ein großes Unternehmen, und es ist diskussionswürdig, ob er sich in seiner Position immer noch auf dieselbe Stufe stellen kann, wenn er mit einem Mann in Idomeni symbolisch Pässe tauscht, sich auch als Vertriebenen benennt.
Aber genau jene Reibungen sind spannend, denn so sehr Weiwei betonen möchte, daß er einer von ihnen ist, wir ohnehin alle Menschen sind, so führt er uns doch eine ganz erbarmungslose Hierarchie vor. Und verkörpert stellvertretend uns – den Zuschauern. Weiwei hält sich aber mit einem moralischen Dilemma nicht auf. Und genau diese Unbedarftheit, mit der er durch den Matsch unzähliger Camps schlappt, hier um den Preis von Gemüse feilscht, da ein Taschentuch reicht, ist vielleicht die einzige ehrliche Haltung, die man einnehmen kann, wenn man von einer privilegierten Position aus auf „die Krise“ blickt. Immerhin schafft es der chinesische Künstler mit seiner Bekanntheit, dieses riesige Projekt zu stemmen, und wird hoffentlich einige in die Kinosessel locken. Aber was dann?
Über ein Jahr haben zwei Dutzend Teams weltweit gedreht: in Europa, Kenia, Gaza, Bangladesch, Irak, Afghanistan, im Libanon, Sudan, in den USA, an Grenzen und Zäunen. 6,3 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, es ist die größte Völkerwanderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Weiwei zeigt auch, wie grausam effizient man die europäischen Grenzen sichert, und wie fatal das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei für jeden Ankommenden ist. In beängstigend ästhetischen Bildern dokumentiert er den Untergang der Welt, wie wir sie kennen wollen. Die brennenden Ölfelder von Mossul werden zum atemberaubenden Tableau der Apokalypse, das Flüchtlingsboot auf den glitzernden Wellen zum Symbol unserer Zeit. What Now, Europe? Ein wenig Mitgefühl wird nicht mehr reichen.
Originaltitel: HUMAN FLOW
USA/D 2017, 140 min
FSK 6
Verleih: NFP
Genre: Dokumentation, Schicksal
Regie: Ai Weiwei
Kinostart: 16.11.17
[ Susanne Kim ] Susanne mag Filme, in denen nicht viel passiert, man aber trotzdem durch Beobachten alles erfahren kann. Zum Beispiel GREY GARDENS von den Maysles-Brüdern: Mutter Edith und Tochter Edie leben in einem zugewucherten Haus auf Long Island, dazu unzählige Katzen und ein jugendlicher Hausfreund. Edies exzentrische Performances werden Susanne als Bild immer im Kopf bleiben ...