Geschichten, die das Leben schreibt, geraten auf dem Big Screen als anekdotisches Plaudertaschenbuch ja oft recht schnarchig. Verrennen sich dann Filmemacher in das vermeintlich Erzählenswerte, folgt die Ernüchterung, der Stoff wird frisiert, aufgepeppt, zur schrillen Karikatur eines an sich ganz normalen Lebens.
All das brauchten die beiden Filmnovizen Glenn Ficarra und John Requa gottlob nicht, die Geschichte, die sie erzählen, und die Schicksale ihrer Figuren sind abgefahren genug, um daraus einen mehr als imposanten Film zu machen. Und einen nahezu genialisch besetzten – ja, alle Zweifler aus dem Weg, Jim Carrey brilliert! Und Ewan McGregor scheint sich in diesem Kinofrühjahr gleich mit drei bemerkenswerten Filmen wieder ins Gedächtnis als ernstzunehmender Akteur zu spielen. Doch Momentchen, worum geht es eigentlich, was ist das Abgefahrene an diesem ungewöhnlichen Beziehungsfilm, dieser Amour fou zwischen Steven Russell und Phillip Morris? Nun: Steven braucht erst einen handfesten Unfall, der ihm die Augen, das Herz und den Hosenstall öffnet. Gay ist das Zauberwort, das war er wohl schon immer, er hatte es nur lange ausgeblendet. Im Zeitraffer sehen wir seine jugendlichen Qualen, seinen verzweifelten Kampf um die Liebe seiner Mutter. Nun wird alles anders: Noch am Unfallort schreit er den helfenden Polizisten hysterisch ins Gesicht „Ich werde eine Schwuchtel sein!“ Und tut’s!
Frauchen und Kinder werden verlassen, die allabendlichen ehelichen Gebete wird Steven kaum vermissen, ab ins buttercremefarbene Florida, das durchtrainierte Sixpack Jimmy an die Seite, zwei zuckersüße Pinscher vorneweg, die Sonne auf der Haut, die Spiegelglaspornobrille ins Haar geschoben. Herrlich, was ist das Leben doch schön! Aber die Welt kostet Geld, viel Geld, Steven jedoch hat das Krullsche Talent – zur Hochstapelei. Und da schon zum Vorspann das animierte Herz aus Wolken einen Grauschleierflor trug, kommt es, wie es kommen muß: Der Knabe fliegt auf und in den Knast. Nun geht der Wahnsinn erst richtig los, denn hier sitzt der sanfte Phillip. Während andere sich prügeln, löst er Kreuzworträtsel. Steven ist sofort gefixt ...
Jetzt nimmt eine der schönsten und skurrilsten Liebesgeschichten des Kinos ihren Lauf, was zum einen an den wunderbar konträren Figuren in mißlicher Lage liegt, aber eben auch an den irrsinnigen Einfällen des Lebens – und daraus resultierend des Drehbuchs. Nicht andersrum! Das Spiel mit den Klischees gelingt hier aufs Wunderbarste, unzählig die Verrücktheiten, die Steven zu neuen Lügen, Hochstapeleien und Fluchtversuchen verleiten. Gerade bei letzteren gereicht es dem legendären Henri Charriere zur Ehre. Diese Fluchtversuche sind allesamt Liebesbeweise eines notorischen Gefühlsmenschen und Wiedergutmachungsversuche eines vernachlässigten Kindes.
Und da die Regisseure kein Pädagogikseminar geben, ist der lässige und niemals moralinsaure Film vieles in einem: Lovestory, Hochstaplerdrama, Gesellschaftsporträt. Und Schauspielerkino. Verblüffend, wie zwanglos Carrey und McGregor in fremde Häute schlüpfen, faszinierend, wie die Balance aus tiefem Gefühl und knallbunter Komik gelingt, und toll, wie die Regisseure Farbe bekennen: Hier fiebert der Zuschauer mit ihnen, daß ein derart gerissen die Systeme hintergehender Kleinganove wie Steven doch mal ungeschoren davonkommen könnte. Wenigstens der Liebe wegen ...
Originaltitel: I LOVE YOU PHILLIP MORRIS
USA 2009, 96 min
FSK 16
Verleih: Alamode
Genre: Schwul-Lesbisch, Liebe, Schräg
Darsteller: Jim Carrey, Ewan McGregor, Leslie Mann
Regie: John Requa, Glenn Ficarra
Kinostart: 29.04.10
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.