Lorenzo hat entschieden. Er nimmt sein Schicksal in die Hand. Aus den Tagesfluchten unterm Kopfhörer mit den schaurig-schönen Songs von The Cure und Muse soll nun eine längere Auszeit werden. Die braucht der 14jährige dringend – eine Pause von den Mitschülern, die in dem verschlossenen, urplötzlich aufbrausenden Lockenkopf doch nur den Freak sehen, eine Pause von der dominanten und egozentrischen Mutter und eine Pause vom Psychologen, die Lorenzo schließlich in einer markigen Szene mit dem Blick auf die Uhr und der selbstbestimmten Beendigung der Sitzung einläutet. Ein Innehalten vom Krach da draußen, der alles zu überrollen scheint, eine Auszeit von Lärm und Chaos.
Ein Teenager am Limit? Das wäre Stoff für Larry Clark gewesen, für Gus Van Sant sicher auch, der große, wirklich und gerade nach DIE TRÄUMER so schmerzlich vermißte Bertolucci sieht in der Prelude etwas Anderes, etwas Stilleres: Ein Halbwüchsiger zieht die Bremse, ein Pubertierender hinterfragt, ein Verstörter sucht die Ordnung. Die Pause, die Lorenzo sich selbst verschreibt, ist auch eine Pause vom Licht, denn er verzieht sich, nachdem er seine Mutter mit dem angeblichen Skiausflug der Klasse getäuscht hat, in den Keller des Hauses, in dem er lebt. Er will allein sein und doch nicht ganz. Gesellschaft leistet ihm ein Ameisennest, das er sich in einer Tierhandlung zulegt. Eine perfekt gewählte Gesellschaft, denn auch Lorenzo ist akribisch, ordentlich, fast pedantisch. Für sieben Tage richtet er sich ein: Sieben Cola, sieben Würstchen und sieben Schokoriegel werden stabsmäßig geschichtet, das kleine Waschbecken geputzt, die Matratze entstaubt, Häuslichkeit entsteht.
Das allein schon hätte genügt, denn Bertolucci versteht sich meisterlich darauf, Stimmungsbilder zu malen, gewissermaßen behutsam-psychologisch zu erzählen und in wenigen Pinselstrichen Zerrissenheit und Sehnsucht nach einem wie auch immer gearteten Geordnet-sein zu skizzieren. Doch da die Buchvorlage des Films von keinem Geringeren als Niccolò Ammaniti stammt, der bekanntermaßen auch die literarische Basis für den durchaus kleine, feine Parallelen aufweisenden meisterlichen Film ICH HABE KEINE ANGST schuf, braucht es auch hier einen Einbruch, eine Störung, eine im Empfinden Lorenzos beinahe gewaltsame Belagerung: Eines Nachts taucht Olivia in Lorenzos Versteck auf. Sie hat vor zu bleiben. Was für beide zum Grenzgang wird: Lorenzos Halbschwester verschreibt sich selbst einen Heroinentzug ...
ICH UND DU fasziniert durch den Duktus einer rätselhaften Spielanordnung, die sich nicht weniger zumutet, als der Idee zu folgen, wie man heute klarkommen und einander helfen kann, ohne sich dabei zu verleugnen. Die Tage und Nächte gestalten sich als ein eigenwilliger Parcours durch die Verstörungen zweier ganz junger, obzwar verwandter und dennoch fast fremder Menschen, die letztendlich Zuflucht suchen, die sich ihren Ängsten stellen, die gründlich am Ekel laborieren, der eine Welt verunstaltet, die derzeit vor lauter Narzißmus, Oberflächlich- und Gleichgültigkeit nur noch debil aus der Gosse grinst. Damit holt ICH UND DU wahrlich weit aus, und das paßt zu Bertolucci durchaus gut, denn wenn sein erster Film seit zehn Jahren im Wesen eine „kleine“ Geschichte ist, das Große, was der Italiener schon immer mochte, funkelt hier durch, obzwar weitaus subtiler, aber durchaus lesbar.
Seinen größten Trumpf zieht dieser rauhe und dabei so sinnliche, dieser dreckige und durchaus poetische Film vor allem aus seinen Figuren und deren Darstellern. Bertolucci hat sich für unverbrauchte, keinesfalls glatte oder schöne, dafür interessante, traurige und fragende Gesichter entschieden. Tea Falco, die Olivia spielt, scheint nicht von dieser Welt: zerbrechlich, blaß und dabei von einer Kraft, die als wild noch zu zimperlich beschrieben wäre. Den Film aber zu eigen, ganz unaufdringlich, macht sich der noch sehr junge Schauspieler Jacopo Olmo Antinori, der trotz seiner Jugend ein wenig an Vincent Gallo erinnert und im nächsten Moment an Sebastian Urzendowsky, einen der besten jungen deutschen Schauspieler. Dieser Antinori krallt sich einem als Lorenzo förmlich ins Herz, diese großen blauen Augen, dieser Blick eines zornigen und verletzlichen Menschen, eines liebevollen auch, wie der Umgang mit Lorenzos sterbender Oma zeigt. Und eines hochintelligenten, der das Leben als Hamsterrad enttarnt, mit dem Gürteltier mitfühlt, der dennoch dafür antritt, dem Dasein Gutes anzugewinnen. Daß Bertolucci neben dem Talent zur akribischen Charakterzeichnung auch über Witz verfügt, zeigen die schrägen Dialoge zwischen Lorenzo und seiner Mutter, als er wieder einmal fragt und fragt und fragt und dabei apokalyptische Szenarien mit Inzesttouch entwirft, worauf die Mutter ausrastet.
Die Bilder von ICH UND DU zaubert eine beinahe tänzerische Kamera, was perfekt zur Stimmung des Films paßt, der mit einer hinreißenden italienischen Version von Bowies „Space Oddity“ berührt. In „Ragazzo Solo, Ragazza Sola“ heißt es „Wohin gehst Du, einsamer Junge? Die Nacht ist ein großes Meer ...“, schon da muß man durchatmen, geschluchzt wird dann beim Glauben an den rettenden Engel, selbst wenn der längst nicht mehr fliegen kann, und richtig geheult, wenn sich Lorenzo und Olivia nach einem rührenden Tanz versprechen, sich nicht mehr zu verstecken und keine Drogen mehr zu nehmen. Dann weiß man, daß zwei Menschen nicht mehr versprechen können. Und daß nur einer seins halten wird.
Originaltitel: IO E TE
I 2012, 97 min
FSK 12
Verleih: Kool
Genre: Drama
Darsteller: Jacopo Olmo Antinori, Tea Falco, Sonia Bergamosco
Regie: Bernardo Bertolucci
Kinostart: 21.11.13
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.