Wenn man aus einer Gruppe von 30 Freunden zehn auswählen muß, denen man das Leben rettet, wie soll man sich da entscheiden? Wen nimmt man mit? Wen läßt man zurück? Krieg, egal zu welcher Zeit und an welchem Ort, ist der perfekte Nährboden für solche menschenunwürdigen Situationen. In Agnieszka Hollands neuem Film ist das aber nur der Startpunkt für eine Tour de force, die unsere Vorstellungskraft von dem, was Menschen tragen können, weit übertrifft.
In einer von Deutschen besetzten polnischen Stadt flieht eine kleine Gruppe jüdischer Ghettobewohner in die Kanalisation, um dem Abtransport zu entgehen. Dabei werden sie von dem Kanalarbeiter Socha entdeckt, der sie für Geld durch das unterirdische Labyrinth führen wird. Ein stinkender Irrgarten, eingehüllt von Dunkelheit und dem Geschrei der Ratten, der von nun an für viele Monate ihr Zuhause sein wird. Der Film konzentriert sich auf den Versuch der bunt zusammengewürfelten Gruppe, in dieser demütigenden Situation ein Minimum ihrer Würde zu behalten. Auf einem kleinen Gaskocher bereiten sie Essen zu. Sie waschen sich und üben ihre Religion aus. Sogar die Kultur wird aufrechterhalten, Bücher werden gelesen und kleine Theateraufführungen veranstaltet. Ein klares Statement der Grande Dame des polnischen Kinos für die Macht der Kunst.
Wer die früheren Filme von Agnieszka Holland kennt, der weiß, hier wird optisch und atmosphärisch dick auf die Leinwand aufgetragen. Manchmal auch zu dick, wenn das Pathos der polnischen Seele den Pinsel zu schwungvoll arbeiten läßt. Schwierig dürfte auch, vor allem in unserem Land, die Wahl der Darsteller sein. Herbert Knaup, Maria Schrader und Benno Führmann sind an sich gut, bleiben aber für unsere Augen doch wenig glaubwürdig in der Rolle polnischer Juden.
Was sich der Film aber vor allem gefallen lassen muß, ist der Vergleich mit Andrzej Wajdas KANAL, der vor über 50 Jahren eine mehr als ähnliche Geschichte in Warschau erzählte. Holland hat sich den Film mit Sicherheit genau angesehen, kann mit ihrem Film aber nicht an das Epos des Großmeisters heranreichen. Die faszinierende Härte seiner Schwarzweißbilder wirkt noch heute nach. Wajda schuf die Darstellung des großen Ganzen durch den Blick auf die Gruppe. Dieser Schritt gelingt IN DARKNESS leider nicht.
Originaltitel: IN DARKNESS
Polen/D/F/Kanda 2011, 145 min
FSK 12
Verleih: NFP
Genre: Drama
Darsteller: Robert Wieckiewicz, Benno Führmann, Maria Schrader, Herbert Knaup
Regie: Agnieszka Holland
Kinostart: 09.02.12
[ Marcel Ahrenholz ] Marcel mag Filme, die sich nicht blind an Regeln halten und mit Leidenschaft zum Medium hergestellt werden. Zu seinen großen Helden zählen deshalb vor allem Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij, Michelangelo Antonioni, Claude Sautet, Krzysztof Kieslowski, Alain Resnais. Aber auch Bela Tarr, Theo Angelopoulos, Darren Aronofsky, Francois Ozon, Jim Jarmusch, Christopher Nolan, Jonathan Glazer, Jane Campion, Gus van Sant und A.G. Innaritu. Und, er findet Chaplin genauso gut wie Keaton ...