Ferienmenschen sind besonders freie Menschen. Mit den Kleidern, heißt es, ziehen sie am Strand auch den Alltag aus und mit ihm so manches Korsett, das sie daheim an ihrer Selbstverwirklichung hindert. Laurent Cantet hat sich nun an einen der schönsten Strände unter einen der blauesten Himmel begeben, um mit karibischer Sonne ein Drama um abgelegte Hemmungen auszuleuchten. Das Haiti der 70er Jahre ist Ort einer fragwürdigen Begegnung von Lebens- und Traumwelten, die der Regisseur nicht Sex-, sondern Liebestourismus genannt wissen will.
Den Unterschied macht, daß diesmal Frauen zwischen Vierzig und Fünfzig die Lustreisenden sind, mehr noch aber, daß Cantet hinter ihrer Lust auf fremde Haut auch Scham und Verletzungen findet. Die und ihre Dollars haben Ellen, Brenda und Sue aus den USA mitgebracht, wo sie am Älterwerden, an vereinsamter Libido oder ihrer Körperfülle leiden. Doch am Strand hinter dem Hotel sind die Karten neu gemischt. Leicht kann man sich mit einem spendierten Sandwich und kleinen Geschenken kaufen, was zu Hause teuer oder zumindest schwierig ist: die Aufmerksamkeit junger Männer, ihre Leidenschaft, wenn man will, ihre Zurückhaltung, wenn man nicht will. Legba, das 18jährige, vom Feriengott in den Sand gemalte Abbild erotisch-exotischer Frauenträume, beherrscht die Regeln dieses Tauschhandels so versiert, als hätte er sie selbst gemacht. Und während draußen in den Straßen die Milizen von "Baby Doc" Duvalier das Sagen haben, scheinen sich zumindest in Liebesdingen die Machtverhältnisse umzukehren. Denn Ellen, die scharfzüngige Literaturprofessorin aus Boston, und Brenda, die zarte Geschiedene aus Georgia, konkurrieren um Legbas ungeteilte Zuwendung.
Nach RESSOURCES HUMAINES und AUSZEIT, die Cantet bekannt gemacht haben, ist er diesmal weit gereist, um seinem großen Thema treu zu bleiben: dem Material Mensch, in schwarz und weiß, wie es unter gesellschaftlichen Bedingungen geformt wird und sich - selbst in Badesachen - nie ganz gleich ist. Einmal mehr bedient er sich dabei einer strengen, ja fast nüchternen Handschrift, die ohne komplizierte ästhetische Umwege auf den Punkt kommt. Die Farbe seines bislang vielleicht "buntesten" Filmes entstammt dem Schauplatz, die Brisanz dem Thema.
Die Vorsicht, die Milde im moralischen Urteil aber, die man hier tatsächlich schätzen lernt, ist in Cantets Sensibilität für das Menschliche begründet. Mit kurzen, direkt in die Kamera gesprochenen Geständnissen der Figuren bricht er seine geradlinige Dramaturgie auf. Nicht für die cineastische Schönheit, sondern für Wahrheiten, die sich am Strand nicht sagen lassen. Brenda gesteht, daß ihr aller erster Orgasmus erst drei Feriensommer zurückliegt und sie wieder hergeführt hat. Ellen, die über sich und alles Aufgeklärte, klärt über die Wurzeln ihres Zynismus auf - eine wieder wunderbare Charlotte Rampling zähmt behutsam die Härte dieser Frau.
Und Albert, der Hotelportier, spricht von der Scham, weiße Amerikaner bedienen zu müssen. Ihm überläßt es Cantet, den Geschehnissen mit seinem Schweigen und seinem Stirnrunzeln den stummen Kommentar zu sprechen: zur Egozentrik und Zügellosigkeit der Touristen wie zur Käuflichkeit derer, die sich nichts kaufen können. Mehr noch als die Schüsse, die aus der Stadt zu hören sind, schüren seine wissenden Blicke die Ahnung, daß dieses Paradies eine Illusion ist - auch für jene, die hier zu Hause sind.
Originaltitel: VERS LE SUD
F 2005, 105 min
Verleih: Alamode
Genre: Drama, Polit, Liebe
Darsteller: Charlotte Rampling, Louise Portal, Karen Young, Ménothy Cesar, Lys Ambroise
Regie: Laurent Cantet
Kinostart: 21.09.06
[ Sylvia Görke ]