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Irreversibel

Verstörendes und nachhaltig schockierendes Bad im Strudel aus Gewalt und Gegengewalt

Diesen Film muß man warnend empfehlen. Dieser Film ist roh, er tut richtig weh, weil in ihm Menschen sich richtig weh tun, weil ihnen bestialisch weh getan wird. Weil er daran erinnert, daß uns im Wesentlichen kaum mehr als ein Hauch an Würde, Moral und Respekt von animalischen Kreaturen unterscheidet, weil er offenbart, daß mitunter noch nicht einmal jener Hauch existiert. Hier wird klar: Der Mensch ist Tier, tumber, banaler Instinkt.

Marcus hetzt durch die Nacht, durch Travestie-Bars, über den Transenstrich, durch Schwulen-Kerker und Lederschuppen. Bis er das vermeintliche Schwein hat, welches dazu fähig war, wozu - so sollte man glauben - kein Mensch fähig sein könnte. Auf diesen Typen schlägt Marcus mit einem Feuerlöscher ein, daß der Schädel bricht, das Gesicht zur Fratze zerplatzt, bis es mehr einem Haufen Schlachthof-Überreste gleicht als dem ursprünglichen Antlitz jenes Sadisten, der Marcus’ schöne Freundin Alex auf dem Weg nach Hause im Poppersrausch auf das Brutalste vergewaltigte und sie anschließend mit unglaublichem Haß schlug, zerschlug, trat, zertrat.

Als Zuschauer hatte man nach der Feuerlöscherszene längst die Angst davor verloren, was denn passieren könnte. Doch jetzt, bei dem viehischen Vergewaltigen, verläßt man entweder das Kino oder zerquält sich aus Ekel, Wut, Ohnmacht. Vielleicht schließt sich jetzt - zumindest ideell - der Teufelskreis, wird der Rotor des Vernichtens und Vernichtetwerdens in Gang gesetzt. Denn möglicherweise wäre man genau jetzt am Punkt Null und damit auch in der Lage, den Feuerlöscher zu nehmen. Und genau das läßt die Angst vor der Bestie Mensch und der eigenen Instabilität wiederkehren. Diese Angst, die Noés Film erzeugt, ist nackte Furcht davor, daß so etwas Barbarisches den exemplarischen Charakter verliert, daß Gewalt sich derartigen Raum in unserer Gesellschaft schafft, daß sie nicht mehr zitiert, künstlich abstrahiert und schließlich gezeigt wird, weil dies zur schläfrigen Realitätspauserei verkäme. Diese Komplexität aus Aktion und Reaktion machen Gaspar Noés Werk zu einem schier unerträglichen und wichtigen Film, wenn auch zu einem, der verfolgt, der mit Sicherheit lebenslang nicht losläßt, der mitunter auch fragwürdig erscheint, weil er formal brillant, geradezu ausgetüftelt ist. Aber voyeuristisch ist er nicht, weil er das gar nicht sein kann. Zumindest so lang Voyeurismus mit Lustgewinn verbunden ist, und Lustgewinn zumindest semantisch positiv belegt ist. Noé spult diesen Film gewordenen Alptraum rückwärts ab, was sich als Glücksfall und einzige Möglichkeit auch für den Zuschauer erweist, zur Normalität - die hier eben am Ende steht und Vorgeschichte ist - zurückzukehren.

Man weiß das Schlimmste, das Unglaubliche schon hinter sich. Nun sehen wir die bildschöne Alex, die nur von Monica Belucci gespielt werden kann, sich mit Marcus streitend, amüsierend und frisch verliebt tollend. Jetzt wird das Licht sanfter, jetzt zeigt sich eine Zartheit, die erlösend wirkt und die zugleich die Wunde am Beben hält. Denn wieder dröhnt es auf, dieses schmerzliche Wissen darum, was zu zerstören der Mensch in der Lage ist.

Originaltitel: IRRÉVERSIBLE

F 2002, 99 min
Verleih: Alamode

Genre: Drama

Darsteller: Monica Bellucci, Vincent Cassel

Regie: Gaspar Noé

Kinostart: 11.09.03

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.