Es beginnt so, wie es bei François Ozon oft beginnt: mittendrin. In einem Alltag, einer Abfolge von Gewöhnlichem, einer Vertrautheit. Hier der zwischen Isabelle und ihrem jüngeren Bruder Victor. Eine Intimität, die auf falsche Fährte lockt: Sie baden zusammen, schwimmen im Meer, er beobachtet sie beim Onanieren, sie zieht sich schick an und fragt nach seinem Urteil: „Wie eine Nutte!“ Eines Tages wartet er in ihrem Bett. Und das ist eben eine der Stärken Ozons, sofort, unmittelbar in komplexe Gefüge zu tauchen, hier das einer Mittelstandsfamilie mit pubertierenden und flügge werdenden Kindern, um dann eben doch nicht von einem zu nahen Bruder-Schwester-Bündnis zu erzählen. Wobei Victor den richtigen Riecher hatte: Denn nachdem Isabelle an einen dieser austauschbaren Strandjungs, bei Ozon mal wieder ein Deutscher, ihre Unschuld in einem blöden, so berechenbaren, leidenschaftslosen Akt regelrecht verscherbelt hat, bläst sie die Kerzen ihres Geburtstagskuchen aus und wird mit 17 zur Nutte. Und plötzlich hebt die Stimme Françoise Hardys an, um über die Liebe eines Jungen zu singen ...
Ozon erzählt geradezu meisterlich von Erwachsenwerden und Selbstbestimmung und wählte dafür zwei Rhythmen: den der Jahreszeiten und den aus vier Chansons einer über zehn Jahre gestreckten Schaffensphase Hardys, als – wenn man so will – Spiegelung einer ebenfalls reifenden Künstlerin. Doch Ozon ist ein Spieler, ein Meister der Effizienz und ein geschickter Fabuleur, denn er überläßt es allein dem Betrachter, warum Isabelle für Geld mit meist älteren Männern schläft. Ist es Langeweile, Leere, Narzißmus? Man kann nur irren, denn Ozon gibt weder den Sozialpädagogen noch den Moralmeier, und so kriegt das Gleichgewicht, dieses geweckte Selbstbewußtsein Isabelles, tatsächlich nur dann ein Korrektiv, als einer ihrer Freier mitten beim Sex stirbt. Alles fliegt auf. Und hier findet der Erzähler die perfekte Ortung und für den aufmerksamen Zuhörer auch den Anker, wenn der Regisseur schließlich einen nach außen durchweg intakten, recht freiheitlichen Bund zeigt, Familie letztendlich aber gerade heute oft nicht viel mehr ist als allenfalls ein Nebeneinander. Keiner sieht den anderen, und wenn dann eben rauskommt, daß das Töchterchen sich prostituiert, dann fällt der hysterischen Mutter auch erst einmal nicht viel mehr ein als: „Weißt Du überhaupt, was Du mir antust?“
Es wird Einblick in die bourgeoise Bigotterie gewährt, denn auch die Mutter ist kein Chormädchen, und das Spannendste an diesem für einen Ozon regelrecht ernsten Film ist natürlich die Unantastbarkeit seiner Hauptfigur. Sie schwebt durch einen ganz eigenen Kosmos, sie bleibt ungreifbar. Für die Jungen ist sie halt jung, für die Alten ein Versprechen, immer bleibt sie fremd und damit interessant, denn man fragt sich filmüber und auch im Nachgang: Was geht da hinter dieser schönen Sommerstirn vor sich? Erkennbar ist nur, daß Isabelle die Jägerin bleiben wird, sie wird nicht wie ihre Mutter diese gluckenhafte Verlogenheit leben, sie wird keinerlei Rolle einnehmen, die man von ihr erwartet: keine Brave-Tochter-Rolle, keine Beziehungsrolle, keine Beste-Freundin-Rolle. Sie antizipiert ihre Umwelt in einer beinahe wissenschaftlichen Nüchternheit, während die Erwachsenen alles psychologisieren oder eben gleich Panik schieben.
Fabelhaft ist, wenn Ozon Isabelles Mitschüler Rimbauds hinreißendes Poem „Roman“ zitieren läßt. Darin heißt es erst „O siebzehn Jahre – Juninacht. Da tanzen die Pulse süß berauscht!“, und wenig später wird der Krampf der wartenden Verliebten geeerdet: „ ... schon füllt mit Galle sich der Mund.“ Isabelle wartet nicht. Worauf auch?
Originaltitel: JEUNE & JOLIE
F 2013, 93 min
FSK 16
Verleih: Weltkino
Genre: Drama, Erotik
Darsteller: Marine Varth, Charlotte Rampling, Fréderick Pierrot, Lucas Prisor
Regie: François Ozon
Kinostart: 14.11.13
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.