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Keine Sorge, mir geht’s gut

Eine zerstörte Tagesordnung oder Das Rätsel vom verschwundenen Zwilling

Aus seinen Filmen, zuletzt MADEMOISELLE und DIE FRAU DES LEUCHTTURMWÄRTERS, ist Philippe Lioret als Erzähler in Erinnerung, der Schwermut und Leichtigkeit im selben Bild unterzubringen vermag. Die wandelbare Sandrine Bonnaire gab beiden ihr Gesicht. Obwohl aber hier eine sehr viel jüngere Frau den Herzschlag der Geschichte vorgibt, obwohl diese 19jährige Lili so wenig weiß, wohin sie will, worauf sie hoffen und wovor sich fürchten soll, ist dies vielleicht Liorets reifster Film geworden.

Mit der Brise eines unbeschwerten Sommers wird man hier in einen trügerisch ruhigen Pariser Vorort geweht. Lili hat die Ferien in Spanien verbracht. Neue Bekanntschaften, die mit der älteren Léa und deren Freund Thomas, sind geschlossen. Doch die Eltern geben sich merkwürdig einsilbig, als die Heimgekehrte nach ihrem Zwillingsbruder fragt. Loïc sei einfach weg, sagt man ihr, mitsamt der Gitarre. Einen Streit mit dem Vater habe es gegeben, das Übliche eben. Und als die Mutter immerzu Tee anbietet statt nähere Erklärungen, als Loïcs Handy-Anrufbeantworter vollgefleht ist um irgendeine Nachricht, als weder Wutausbrüche noch inständige Bitten die Eltern aus ihrer Gefaßtheit bringen können, hört Lili auf zu essen. Die Ärzte verordnen gut gemeinte Repressionen und schließlich Zwangsernährung. Doch die lebensrettende Infusion kommt per Post - eine unscheinbare Ansichtskarte aus irgendeiner französischen Provinz: "Keine Sorge, mir geht’s gut. Loïc."

Weitere Karten folgen - prosaisch verfaßte Lebenszeichen im Telegrammstil. Loïc aber bleibt Gespenst, ein ewig Flüchtiger, der an jedem Ort, in jedem Bild und hinter jeder Ecke der Geschichte vermutet werden muß. Daß man diese Suchbewegung beinahe unwillkürlich mitvollzieht, daß man Liorets dramaturgische Schwebefigur bis zum Ende mitbalanciert, ist das Fesselnde dieses Films, der einmal mehr eine unheilvolle Allianz zwischen Alltäglichem und Außergewöhnlichem schmiedet.

Wie aber läßt sich über etwas reden, das mindestens zur Hälfte aus Geheimnis besteht? Man muß verraten, daß die andere Hälfte eine in jeder Hinsicht anspruchsvolle Übung in Sachen Demut ist - eine Verneigung vor dem Lückentext im Erzählen und Bebildern, die Leerstellen dort läßt, wo sie am meisten schmerzen. Am Rande schafft Lioret Einblicke in eine aufgeräumte Vorort-Tristesse, die für alle Vororte außerhalb von Paris gleichermaßen gelten kann. Nebenbei erzählt er von den kleinen Alltagsrassismen im französischen Supermarkt, in dem die dunkelhäutige Léa und die engelsbleiche Lili ihren Unterhalt verdienen. Beiläufig registriert er das allgegenwärtige Fernsehen, das alle Familienkatastrophen der Welt überflimmert.

Gelegentlich ist Lioret dieses Abschweifen in soziale und andere Konfliktfelder zum Vorwurf gemacht worden. Doch selten waren die Randstücke, die Peripherien eines Films so zielführend wie hier. Von den Seiten her erschließt sich Lioret eine absolut konsistente metaphorische Ebene, über die es sich so sanft und leise läuft, als läge Schnee darüber. Unter den absichtlich zerstreuten Panoramablicken auf eine lückenhafte emotionale Skizze offenbart sich auch eine ebenso poetische wie dramatische Deutung des Zwillingsmotivs: Wie kann die eine ohne den anderen auch nur essen, geschweige denn leben?

Originaltitel: JE VAIS BIEN, NE T’EN FAIS PAS

F 2006, 100

min
Verleih: Prokino

Genre: Drama

Darsteller: Mélanie Laurent, Julien Boisselier, Aïssa Maïga, Kad Merad, Isabelle Renauld

Stab:
Regie: Philippe Lioret
Drehbuch: Philippe Lioret, Olivier Adam

Kinostart: 22.03.07

[ Sylvia Görke ]