Annie ist ganz und gar kein liebes Mädchen. Annie mag das Geräusch ihres Baseballschlägers, wenn er gegen Felsen oder Bäume kracht. Oder aber die Geburtstagstorte des behinderten Nachbarmädchens platt macht. Außerdem mag sie den Kick beim Klauen von Capri-Sonne-Päckchen im Shop um die Ecke und die Farbmuster der zerplatzen Munition ihrer Paintball-Kanone auf Kuh-Kadavern. Doch was soll Annie auch den lieben langen Tag machen, jetzt, wo die Schule wegen eines Gas-Lecks ausfällt?
Die anderen Kinder in ihrem Alter wollen nichts mit dem groben, ungewaschenen, blonden Mädchen zu tun haben, und ihr alleinerziehender Vater verbringt seine Zeit lieber beim Raufen und Saufen mit seinem besten Freund. So streift Annie eben durch die Gegend und macht, was ihr gerade einfällt. Auf einem ihrer Streifzüge stößt sie auf einen alten Brunnenschacht, aus dem eine Frauenstimme um Hilfe ruft. Annie reagiert wie ein Mensch, dem Mißtrauen vertrauter als Vertrauen ist: Sie läuft weg. Doch diese Frauenstimme aus dem Schacht im Wald läßt sie nicht los. Sie wird zur Gewissensprobe für einen jungen Menschen, der bisher ohne moralischen Kompaß durchs Leben gegangen ist.
Zu welchen Grausamkeiten Kinder fähig sind, wenn allein gelassen, wissen wir spätestens seit der Schulpflichtlektüre vom „Herr der Fliegen.“ Die Brüder David und Nathan Zellner wählten für ihr etwas anderes Coming-of-Age-Drama statt gestrandeter Jungen ein einsames 11jähriges Mädchen als Hauptfigur. Aufgewachsen im White-Trash-übersäten Speckgürtel von Austin, Texas, ist für Annie das Leben dank des Desinteresses ihres Umfelds eine einzige Spielwiese für ihre kindliche Zerstörungswut. Dieses Mädchen trifft nun in der zentralen Begebenheit des Films auf eine hilfebedürftige alte Frau, gefangen in einer lebensbedrohlichen Situation.
Leider nutzt der Film diese spannende Grundsituation zu wenig, will sich nicht so recht zwischen narrativ spartanischer Charakterstudie und dramatischem Erzählkino entscheiden, weshalb die zweite Hälfte des Films ähnlich wie seine Hauptfigur orientierungslos dahindriftet, und die aufgebaute Spannung einfach verpufft.
Das Ende hingegen ist in seiner Gnadenlosigkeit und Konsequenz wieder so, wie der ganze Film mit etwas mehr Konzentration im Mittelteil hätte sein können: eindrucksvoll, verstörend und beängstigend nah dran an den Horrormomenten der eigenen Kindheit.
Originaltitel: KID THING
USA 2012, 83 min
FSK 16
Verleih: W-Film
Genre: Drama, Erwachsenwerden
Darsteller: Sydney Aguirre, Susan Tyrrell, Nathan Zellner, David Wingo
Stab:
Regie: David Zellner
Drehbuch: David Zellner
Kinostart: 22.08.13
[ Paul Salisbury ] Paul mag vor allem Filme, die von einem Genre ausgehen und bei etwas Neuem ankommen. Dabei steht er vor allem auf Gangsterfilme, Western, Satire und Thriller, gern aus der Hand von Billy Wilder, Sam Peckinpah, Steven Soderbergh, Jim Jarmusch, den Coen-Brüdern oder Paul Thomas Anderson. Zu Pauls All-Time-Favs gehören DIE GLORREICHEN SIEBEN, TAXI DRIVER, ASPHALT COWBOY, SUNSET BOULEVARD, POINT BLANK ...