So ziemlich jede Berufsgruppe unterliegt anhänglichen Klischees: Zum Beispiel baden Ärzte im Geld, Filmjournalisten sind bleiche, freudlose Gestalten mit hohlen Wangen und Hauptwohnsitz Kino, Lehrer haben ab 12 frei oder eh immerzu Ferien. Und Boxer mutieren wegen des ständigen Semmelns auf die Kinnlade früh zu Neandertalern. Letzteres birgt also Voraussetzungen, um diese Doku ungesichtet gleich abzuhaken.
Doch bereits der Vorspann, visualisiert und vertont wie etwas, das aus Michael Bays Hexenküche stammt, weckt – vielleicht widerstrebendes – Interesse. Sollte sich da jemand Mühe gegeben haben, dem Publikum keine dröge Sportler-Beweihräucherung zuzumuten? Und dann stehen sie vor der Kamera, die Brüder Klitschko, das Bären-Doppel, und kriegen tatsächlich komplette Sätze raus. Nein, seien wir ehrlich: Wladimir und Vitali K. erweisen sich sogar als witzige, intelligente Gesprächspartner! Da fällt manchem schon mal das Popcorn zurück in die Tüte.
Ja, es soll durchaus gelacht werden, wenn eine explosive Kindheitserinnerung von unter Papas Bett zwischengelagerten Minen berichtet. Man darf gerührt seufzen über zwei riesige Muskelbrocken, die nach Kämpfen immer ganz besorgt ihre Mutter anrufen, um Entwarnung bezüglich möglicher Verletzungen zu geben. Tiefgründigere gedankliche Ausflüge zum Kalten Krieg oder der Tschernobyl-Katastrophe finden auch noch Platz, ebenso wie spannende Blicke ins Business. Et cetera.
Im Gegensatz zu einigen anderen Biopics porträtiert KLITSCHKO zwar flott zwei eng verbundene Leben, verfällt dabei aber nicht dem Fehler, alles bloß simpel abzuarbeiten. Besonders lobende Erwähnung muß dabei finden, daß selbst Niederlagen sowie ihre Auswirkungen nie aufgrund vermeintlicher Star-Unantastbarkeit entschlossen ausgespart werden, sondern genügend Raum erhalten. Denn wie sich hier endlich beweist: Auch Ikonen sind Menschen und als solche vor Fehlern oder seelischen Schrammen kaum gefeit.
Natürlich gibt es trotzdem genügend Ausflüge in den Boxring zu sichten, vielleicht hätten da zwei, drei Kämpfe weniger letztlich sogar gereicht, man sitzt ja schließlich im Kino, nicht vor der Sportschau. Aber ungeachtet dieses Meckerns erweist sich KLITSCHKO ohne Probleme als Musterbeispiel einer gelungenen Dokumentation, absolut positive Überraschung und Ode an zwei Brüder, denen man jeden Ruhm wirklich gönnt.
D 2011, 110 min
FSK 12
Verleih: Majestic
Genre: Dokumentation, Sport
Darsteller: Vitali Klitschko, Wladimir Klitschko
Stab:
Regie: Sebastian Dehnhardt
Drehbuch: Sebastian Dehnhardt
Kinostart: 16.06.11
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...