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Knistern der Zeit

Memento mori bei Ouagadougou

In Burkina Faso, inmitten einer staubigen Mondlandschaft, wird ein Traum gebaut: ein Operndorf in, für und mit Afrika. 2008 dachte Christoph Schlingensief zum ersten Mal laut über so etwas nach, nur wenige Monate, nachdem bei ihm Krebs diagnostiziert worden war. Eine zeitliche Koinzidenz? Das folgerichtige Aufbäumen zu einem Vorhaben, das bleibendere Spuren hinterlassen würde als die Eroberungsfeldzüge des Theatermanns und umtriebigen Gemütlichkeitsstörers in Deutschlands öffentlichen und kulturellen Räumen? Ein Gegenentwurf zur satten Bombastkultur auf dem Grünen Hügel in Bayreuth?

Jedenfalls nahm das Projekt Formen an, gewann Verbündete wie den Architekten Diébédo Francis Kéré, fand schließlich nach Erkundungsreisen durch verschiedene afrikanische Staaten 2009 seinen endgültigen geographischen Bestimmungsort östlich von Ouagadougou und in der Filmemacherin Sibylle Dahrendorf eine Begleiterin, die der Idee in Beiträgen für Fernsehmagazine zu medialer Verstärkung verhelfen würde. Einen grundsoliden Film über Basisarbeit im deutsch-afrikanischen Kulturaustausch hätte das geben können, über geschüttelte Hände, lachende Kinder und schwitzende Maurer, über einen Kunstmissionar, den hier wie dort nicht alle verstehen, aber die meisten mögen. Im August 2010 aber geschieht, was trotz sichtbarer Zeichen der Krankheit niemand für wahrscheinlich hielt: Schlingensief stirbt – mitten in der Drehzeit, mitten in der Lebenszeit.

Dahrendorf setzt ihre Arbeit dennoch fort und verfolgt das Werden des Operndorfs bis in den Herbst 2011. Die Zäsur aber, dieser Tag im August schleudert auch ihren Film aus den ehemals geplanten Bahnen. Nicht nur, daß in der achronologischen Montage Prä- und Postmortem-Material, die Aufnahmen mit und nach Schlingensief zu einer Art transzendenter Endlichkeitserfahrung zusammenfließen. Mit seinem Tod spannt sich über diesem Dokumentarfilm ein völlig anderer gedanklicher Horizont, unter dem jedes Bild, jeder Satz eine Mitbedeutung bekommt: Schlingensiefs Selbstporträts auf verwackelter Handy-Kamera als digitale Flaschenpost für die Nachwelt, seine nervöse Ungeduld angesichts massiver Bauverzögerungen als Ausdruck einer existenziellen Zeitknappheit.

Der Wettlauf zwischen einem Mann und seiner Vision ist entschieden – Sibylle Dahrendorf hat das Fotofinish festgehalten.

D 2012, 106 min
FSK 0
Verleih: Filmgalerie 451

Genre: Dokumentation

Darsteller: Christoph Schlingensief, Diébédo Francis Kéré, Aino Laberenz

Stab:
Regie: Sibylle Dahrendorf
Drehbuch: Sibylle Dahrendorf

Kinostart: 07.06.12

[ Sylvia Görke ]