Originaltitel: TESTRÖL ÉS LÉLEKRÖL
Ungarn 2017, 116 min
FSK 12
Verleih: Alamode
Genre: Drama, Liebe, Poesie
Darsteller: Alexandra Borbély, Géza Morcsányi
Regie: Ildikó Enyedi
Kinostart: 21.09.17
Natürlich wissen wir aus dem Effeff, wie ein Liebesfilm aussehen muß. Zum Beispiel schön, selbst in den Sorgenfalten. Und das – wenn wir nicht gerade in Mainstream-Stimmung sind – sogar erst auf den zweiten oder dritten Blick. Daß man seine Blicke von Ildikó Enyedis planvoll aufgerauhtem Gegenentwurf zum gängigen Liebeshändel auf Leinwand gar nicht mehr abwenden will, hat mannigfaltige Gründe. Einer davon sind Hirsch und Hirschkuh, die sich hier in schneebedeckten Traumsequenzen umschleichen. Ein zweiter ist die Erleichterung darüber, daß dieser Traumpfad nicht in eine Tierdokumentation führt. Ein dritter die steife und feste Behauptung, zwei Menschen könnten, ohne einander zu kennen, allnächtlich am selben Hirschmärchen weiterträumen. Und zum vorläufig Vierten: jener gesteifte und verfestigte Sonderfall von einer jungen Frau, die es mit Zahlen und Fakten hat, nicht mit den Männern und schon gar nicht mit sich selbst.
An ihrem neuen Arbeitsplatz in einem Schlachthaus steht Maria meist in den Ecken herum und zupft sich den Rocksaum zurecht. Wenn nötig, sitzt sie, etwa in der Betriebskantine, und irritiert die sich vorsichtig annähernde Mitarbeiterschaft mit Sätzen wie: „Ich esse lieber allein.“ Schließlich wurde sie als Qualitätskontrolleurin eingestellt und nicht als geselliges Kontaktangebot. Schnell umgibt sie die Aura des grauen, aber in sämtlichen pathologischen Farben leuchtenden Mäuschens. Und da ahnen die anderen noch nicht einmal, daß Maria an den Feierabenden mit Salz- und Pfefferstreuern die Begegnungen des Tages nachstellt, ach was, die Begegnungen der letzten Monate und Jahre. Wortgenau. So exakt, wie sie sich an das Datum ihrer ersten Menstruation erinnert: Es geschah am 5. November 1993. Dieser Schatz an Neurosen, diese unnütze und ungelenke Datensammlung möchte eigentlich gar nicht geborgen werden. Betriebsbuchhalter Endre versucht es trotzdem – mit nur einem funktionstüchtigen Arm und schier entwaffnender Hartnäckigkeit.
Natürlich wissen wir auch, wie sich ein Liebesfilm anzufühlen hat, nämlich ein bißchen feucht, manchmal warm und im besten Fall sengend. Aber die Regisseurin mag es kühl und trocken, gerade im Humor und noch mehr in den Abgründen. Nach allen Regeln der Kunst stemmt sich Ildikó Enyedi gegen akzeptierte Grundsätze der filmisch hergestellten Romantik, als gelte es, ein massives Möbel aus dem Kino zu schieben.
Dafür holt sie Mord und Totschlag herein, und zwar in Gestalt der guillotinierten Kuhschädel, ausblutenden Gedärme und abtropfenden Rinderhälften, von denen Maria und Endre im Schlachthofalltag umbaumelt werden. Sie gehören zur animalistischen Motivspur, der hier hinterherzuschnüffeln ist – bis in animistische Gefilde. Denn schließlich brennt doch etwas: die Frage, wie eine schwebende Seele einen passenden, nein, zwei passende Körper finden kann. Oder warum man Miteinanderschlafen nicht immer schon Miteinanderträumen genannt hat.
Oh je, kommt damit die olle Romantik zurück? Vielleicht in einem fadenscheinigen Kleid aus Blutwurst und gespannten Sehnen? Nein, es ist das Mythische, das durch diese irre Geschichte um fehlende Teile geistert wie die Hirsche durch den Wald. Zu den vielen Tieren hat sich Anfang des Jahres der Goldene Bär der Berlinale gesellt. Und er sollte sich wohl fühlen in der Sprödnis aus erzählerischen und visuellen Glasscherben. Ganz egal, ob er sich beim Kuscheln schneidet.
[ Sylvia Görke ]