Nikodem ist eigentlich kein Mensch, das spürt er genau und schlüpft in die Rollen verschiedenster Kreaturen. Alle Sünden dieser Welt, die ihn der Priester bei der Beichte abfragt, weiß er wegzulachen. Was soll denn schlecht daran sein, viel zu essen? Seine ältere Schwester Ola versucht ihrem autistischen Bruder trotzdem die Gesetze Gottes einzubläuen. Seine Kommunion steht an. Und fast scheint es, als würden die angestaubten Regeln der Kirche, die über allem schweben, hier, in der polnischen Provinz, die einzigen sein, die ein wenig Halt in das Leben der Geschwister bringen.
Regisseurin Anna Zamecka beobachtet ganz schlicht den Kampf gegen die Unbill des Alltags, den die 14jährige Ola alleine bestreiten muß. Zwischen klapprigen Möbeln und dicken Ornamenttapeten. Der Vater weilt meistens in der Kneipe, die Mutter wohnt nicht mehr mit der Familie. Ola telefoniert ihr täglich hinterher und versucht ihr das Versprechen abzuringen, an Nikodems Kommunion zu erscheinen. Sie will die Familie wieder vereinen. Die Kamera ist beim Besuch des Jugendamtes dabei, bei dem Ola ihr Leben nach Kräften beschönigt, hält die ausweichenden Blicke der Mutter fest, die Enttäuschung in Olas Augen. Auch ihre Wutausbrüche, ihre Überforderung.
Schmerzlich präzise zeichnet Zamecka das Bild eines Kinderlebens, in dem es an allem mangelt: Zuwendung, Verständnis, auch Geld. Dabei wendet sich die Regie nie mit Fragen an die Protagonisten, die Kamera wird nicht zum Sprachrohr, zum direkten Katalysator von Gefühlen. Aber vielleicht wird sie für Ola zur Selbstvergewisserung. Es wird zumindest spürbar, daß Zamecka mit ihrer klaren Entscheidung für eine dramaturgisch wie auch visuell puristische Beobachtungshaltung niemals Situationen ausnutzt, sich Momente erschleicht oder den Voyeurismus des Zuschauers bedient. In diesem Setting immer eine Gratwanderung.
Denn was macht die Anwesenheit einer Kamera in dem Moment, wenn sie Zeuge von Verzweiflung wird, Ola bei schwierigen Telefonaten mit der Mutter begleitet und später dabei ist, wenn der Traum von einer gemeinsamen Zukunft der Familie endgültig scheitert? Es ist dann nicht analytisch, sondern nur gefühlsmäßig erfaßbar, mit welcher Haltung die Regie an ihr Sujet, ihre Protagonisten, den Menschen an sich herantritt. Zamecka ist mit zärtlichem Herzen bei Ola und Nikodem, erspürt ihre Willenskraft und setzt dieser ein mutiges Denkmal.
Originaltitel: KOMUNIA
Polen 2016, 72 min
Verleih: Peripher
Genre: Dokumentation, Schicksal
Regie: Anna Zamecka
Kinostart: 18.05.17
[ Susanne Kim ] Susanne mag Filme, in denen nicht viel passiert, man aber trotzdem durch Beobachten alles erfahren kann. Zum Beispiel GREY GARDENS von den Maysles-Brüdern: Mutter Edith und Tochter Edie leben in einem zugewucherten Haus auf Long Island, dazu unzählige Katzen und ein jugendlicher Hausfreund. Edies exzentrische Performances werden Susanne als Bild immer im Kopf bleiben ...