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La lisière – Am Waldrand

Fürchte die Dunkelheit

Wenn jemand etwas zum ersten Mal macht, geht er gern auf Nummer sicher; das gilt oft auch für Regiedebüts. Ganz anders allerdings Géraldine Bajard: Ihr hier vorliegender Spielfilm-Erstling wirft alle Konventionen entschlossen über Bord. Und, das sei vorab verraten, gewinnt genau deswegen. Bajard entführt in eine Neubausiedlung irgendwo im Nirgendwo. Hier ist alles strikt geregelt, die Bewohner halten zusammen, man kapselt sich ab. Nun wird ein neuer Arzt gesucht, weshalb der junge François sein Pariser Leben aufgibt und die Stelle übernimmt. Warum, weiß er selbst nicht. Ebenso nebulös: der Verbleib des Vorgängers. Und ist es tatsächlich Zufall, daß François’ Kumpel den Jobwechsel feiern, seine Freundin aber abseits auf dem Balkon steht? Bajard erklärt kaum, am wenigsten ihr Werk, es gilt, eigene Interpretationen zu finden. Jede einzelne Kameraeinstellug kann alles oder nichts bedeuten, sporadisch eingestreute Lieder verdienen bezüglich des Textes ebenfalls Aufmerksamkeit.

Derweil trifft François im französischen Hinterland ein. Daß der Mann ein attraktives Exemplar ist, bleibt nicht unbemerkt: Schon die Wohnungsmaklerin nestelt versonnen am Blusenknopf, später rufen sämtliche pubertierenden Mädchen den Doktor zu Hausbesuchen – symptomfrei, aber berührungswillig. Was wiederum den Jungs nicht behagt. Und unvermittelt liegt eine Tote am Wegesrand ...

Es gelingt Bajard geradezu perfekt, unterschwellige bis offene sexuelle Spannung in permanente und stetig wachsende Bedrohung umzudeuten, unterstützt von Finsternis. Große Teile der Handlung spielen nachts, die Jugendlichen wanken dann wie Zombies durch eine Welt, in der „Sie kommen nicht von hier?“ weder nach Frage noch neugieriger Tratschbasis, sondern Urteil und Ausgrenzung klingt. Wie wenig insgesamt geredet, wie konsequent jegliche Emotion vermieden wird, paßt zu dieser geschlossenen Gemeinschaft, welche in der härtesten Szene einer trauernden Mutter brutal über den Mund fährt, bis sie sich fügt. Gefühle sieht hier keiner gern.

Kurz vor Schluß führt Bajard doch fast widerwillig lose Fäden zusammen, während flackerndes Taschenlampenlicht absolute Häßlichkeit und Verdorbenheit erhellt. Danach scheint plötzlich verträumt die Sonne, als wäre nie etwas passiert. Dem Zuschauer bleibt immerhin die Option, sich damit zu trösten, daß ja alles bloß ein Film war. Oder nicht?

Originaltitel: LA LISIÈRE

F/D 2010, 100 min
Verleih: Real Fiction

Genre: Drama, Thriller, Erotik

Darsteller: Melvil Poupaud, Hippolyte Girardot

Stab:
Regie: Géraldine Bajard
Drehbuch: Géraldine Bajard

Kinostart: 28.04.11

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...