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Le Passé

Glücklich ist, wer vergißt? Die Poetik der Auslassung und ihre kriminelle Energie

Der iranische Autorenfilm ist ein Mythos. Vielleicht, weil in ihm immer auch ein Trotzdem mitklingt, ihn eine Muskelspannung durchzuckt, die von den Auseinandersetzungen mit der heimischen Kulturbürokratie herrührt. Seine Großmeister, Kiarostami, Vater und Tochter Makhmalbaf, sind nahezu sämtlich emigriert oder wie Panahi inhaftiert. Als Asghar Farhadi erste internationale Aufmerksamkeit erregte, ging ein Aufatmen durch die Filmwelt. Da trägt einer die Fackel weiter, und zwar im Inland, und erweist seinen künstlerischen Vor- und Mitgängern vor allem dadurch Ehre, daß er ganz eigene Wege beschreitet.

Auch Farhadis Filme haben diese gespannten Muskeln – nicht wegen einer etwa ausformulierten politischen Stellungnahme, sondern als Ausdruck höchster Konzentration. Die ist nötig, wenn man wie er aus einer eigentlich breiten, vielfigurigen, expansiven Erzählkonstruktion Kammerspiele machen will. NADER UND SIMIN – EINE TRENNUNG, Berlinale- und OSCAR-Gewinner von 2011, ist in seiner Vielschichtigkeit, Genauigkeit und strukturellen Disziplin ein beeindruckendes Beispiel dafür. Zugleich etablierte der Filmemacher dort eine Poetik, in der das Aussparen und Weglassen, das Übersehene und Überhörte die Geschehnisse vorantreiben – und die in ihrer Selbstentzündlichkeit die ordnende Hand eines Regisseurs fast vergessen läßt. Arbeitet Farhadi also am eigenen Verschwinden?

Für LE PASSÉ jedenfalls verschwand er temporär nach Paris – sein erster Film auf fremdem Boden, als müsse er beweisen, daß diese soghafte, den Zuschauer verschlingen wollende Kinoprosa überall auf der Welt funktioniert. Das tut sie. Auch wenn der Iran in Gestalt von Ahmad geographischer Horizont bleibt. Dieser rätselhafte Mann, der das Exil in Frankreich vor Jahren wieder aufgab, um in seine Heimat zurückzukehren, stattet Paris einen vielleicht letzten Besuch ab. Denn seine französische Noch-Ehefrau Marie bestand darauf, die gemeinsame Vergangenheit nun endlich mit einer Unterschrift beim Scheidungsrichter abzuschließen. Daß in das Haus am Stadtrand ein neuer Mann eingezogen ist, habe sie ihm doch per E-Mail mitgeteilt, beteuert sie. Daß Lucie, ihre halbwüchsige Tochter aus einer früheren Ehe, daheim den Aufstand probt, erzählt Marie noch auf der Fahrt vom Flughafen. Daß zu dem neuen Mann ein kleiner zorniger Junge gehört, erschließt sich beim Betreten des Vorgartens. Daß dessen Mutter nach einem Selbstmordversuch seit Monaten im Koma liegt, geht im Patchwork-Gewimmel beinahe unter. Und, ach ja, Ahmad wird nun doch hier und nicht im Hotel übernachten.

Die Vielecksgeschichte entwickelt sich zum aussichtslosen Wettlauf zwischen Vergangenheit, Vorvergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gewinnt zusehends an Dringlichkeit, ja Bedrohlichkeit – ein Kriminalstück ohne Tote, aber voller Fragen nach Schuld und Versagen. Ohne daß man immer so genau wüßte, wer hier eigentlich welcher Verfehlung zu bezichtigen wäre. Die Hinweise sind hinter halb geöffneten Türen versteckt, in beiläufigen Sätzen, an die man sich Szenen später erinnert, wenn sie plötzlich in eines der seltsamen Schlüssellöcher zu passen scheinen. Daß man dieses Wunderwerk der Informationsverweigerung dann nicht einfach zurückblättern kann, ist der wohl einzige Vorwurf, der ihm zu machen ist.

Originaltitel: LE PASSÉ

F/I 2013, 130 min
FSK 12
Verleih: Camino

Genre: Drama

Darsteller: Ali Mosaffa, Bérénice Bejo, Tahar Ramin, Pauline Burlet

Stab:
Regie: Asghar Farhadi
Drehbuch: Asghar Farhadi

Kinostart: 30.01.14

[ Sylvia Görke ]