Originaltitel: L’ENFANT

F/Belgien 2005, 100 min
Verleih: Kinowelt

Genre: Drama

Darsteller: Jérémie Renier, Déborah François, Jérémie Segard

Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne

Kinostart: 17.11.05

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L’Enfant

Das Drama der späten Reue

Erst wenn der Abspann läuft, bemerkt man die Abwesenheit von Musik. Die war auch gar nicht nötig, um dieses schlichte soziale Drama aus dem Kleinkriminellenmilieu um Mangel an Schuldbewußtsein und Fixierung auf das schnelle Geld konzentriert und spannend zu erzählen.

Inzwischen sind 100 Minuten vergangen. Viele davon haben wir Bruno, einem jungen Mann mit Wuschelkopf, dabei zugeschaut, wie er einen Kinderwagen durch eine graue Industriestadt mit stinkender Flußpromenade und viel Autoverkehr schiebt. Mit der qualitativen Veränderung, daß der Wagen irgendwann leer ist. Bruno hat das Kind, sein eigenes, spontan verkauft, wie er es mit Allem tut, was ihm in die Finger kommt. Er lebt völlig in den Tag hinein und hält sich mit kleinen Raubüberfällen über Wasser. Seiner Freundin, die ihn erst am Tag zuvor mit dem Neugeborenen konfrontiert hat, wird er sagen: "Wir machen ein neues" und nicht im Traum damit rechnen, daß sie emotional reagiert. Bisher war ihre Liebe ein großes Spiel. Dann ist Bruno wieder mit dem Wagen unterwegs, diesmal um das Kind zurückzuholen, was ihn allerdings in immer größere Schwierigkeiten bringt.

DAS KIND ist im Wesen eine Coming-of-Age-Geschichte. Jemand begeht aus Unreife einen furchtbaren Fehler und versucht, ihn gut zu machen. Es ist zugleich eine Liebes- und Kriminalgeschichte, mit allem, was eigentlich das Handlungskino ausmacht, einschließlich einer langen Verfolgungsjagd. Anders als im derzeitigen amerikanischen Film üblich wird die Handlung allerdings nicht motiviert. Die ungeheure Tat entwickelt sich aus Brunos eigener Lebenslogik. Das Alltägliche, mit dem sie sich ereignet, läßt einem schon den Atem stocken, um so mehr, als die Handkamera immer schön nahe dran bleibt. So lieben es die Brüder Dardenne, die nach ROSETTA nun ihre zweite Goldene Palme in Cannes ergatterten.

Ihr Blick auf die Hauptfiguren ist distanziert und persönlich zugleich. So kommt es, daß einen Bruno, obwohl als Identifikationsfigur völlig ungeeignet, mit seiner ambivalenten Mischung aus Zärtlichkeit und Kaltblütigkeit eben doch nicht kalt läßt.

[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...