Dieser Film sieht nicht nur aus. Er riecht, ja, er stinkt sogar. Und er klickt, klackt und tropft aus der Leinwand. LEVIATHAN offeriert eine besondere sinnliche Erfahrung und hebt das gesamte Dok-Genre noch einmal auf ein neues Level – auch des Anspruchs und der Zumutbarkeit. Von fixer Rezeption und schnellem Vergessen jedenfalls kann hier nicht die Rede sein. Das streckenweise atemlos machende Werk bohrt sich hartnäckig in Bauch und Kopf. Diesmal ist es nicht das Thema, das dafür sorgt, sondern die Umsetzung.
Regisseur Lucien Castaing-Taylor war mit seiner Kollegin Verena Paravel ein Jahr lang immer wieder auf hoher See. Vor der Küste New Englands rückten sie dem Alltag so dicht auf den Pelz, besser: auf die Fischhaut, wie es nur irgend geht. Ihr LEVIATHAN wird mit wild-wucherndem Crescendo von Tier, Mensch und Maschine keinesfalls zur Feierstunde mythologischer Scheinwelten, sondern zur düsteren Sinfonie, der die zarten Saiten fehlen. Dafür braucht es keine Kommentare, keinen Soundtrack, keinen aufklärerischen Unterbau. Das, was hier im Tiefgang zu sehen und hören ist, hat Thrillerqualität.
Die digitale Technik zog nicht nur ins Nachbereitungsstudio, sondern war schon beim Drehen auf Höhe der Neuzeit. Kleinste Kameras wurden an Bord und an verrückten Orten plaziert: an der Ölkleidung der Fischer, an Klappen, Seilen, Luken, Planken, Fischen. Die grandiosen Perspektiven, die sich daraus ergeben, sind nun wirklich bislang ungesehen. Man ist als Zuschauer auf Glubschaugenhöhe mit sterbenden Meeresbewohnern, man patscht mit dem Fangnetz ins Wasser, sieht perlenden Schweiß auf gegerbten Männergesichtern, vieles ist – auch aufgrund der zumeist diffusen Lichtverhältnisse und des Seegangs – mehr zu ahnen als zu
erkennen.
Wenige dramaturgisch geschickt gesetzte Momente der Klarheit und Ruhe erweisen sich als trügerisch. Die Metaebene von LEVIATHAN gestattet freie Allegorien über Arbeit und Natur genauso wie eher erdnahes Hinterfragen menschlicher Tradition und Verwerfung. Und für diese irren Feldgeräusche, dieses Rattern, Knallen, Rauschen, Kesseln, Scheppern, gäben DJs wohl ihr letztes Hemd.
So wie der Leviathan im christlich-jüdisch-mythologischen Sinne als Monstrum gilt, nimmt er als Film ebensolche Züge an. Für den Mut, ihn wirklich auf die große Leinwand zu bringen – wo er selbstredend hingehört – gebührt jeder Spielstätte Respekt.
Originaltitel: LEVIATHAN
USA/GB/F 2012, 87 min
Verleih: Arsenal Institut
Genre: Dokumentation, Experimentalfilm, Stummfilm
Regie: Lucien Castaing-Taylor, Verena Paravel
Kinostart: 27.06.13
[ Andreas Körner ]