Originaltitel: LION
Australien/GB/USA 2016, 118 min
FSK 12
Verleih: Universum
Genre: Drama
Darsteller: Sunny Pawar, Dev Patel, Rooney Mara, Nicole Kidman, David Wenham
Regie: Garth Davis
Kinostart: 23.02.17
In bitterer Armut gefangen sein, gemeinsam mit Mama Steine schleppen und manchmal den Bruder bei Diebstählen unterstützen: So sieht das Leben des 5jährigen Inders Saroo aus. Zumindest, bis eine Verkettung unglücklicher Umstände ihn nach Kalkutta, fern der Heimat, führt – einsam, schutzlos, hungernd, durch Widerlinge mit abartigem Interesse an Minderjährigen bedroht, zu allem Überfluß behördlich verfolgt.
Eine wahre Geschichte, bei deren Bebilderung Spielfilmdebütant Garth Davis auf seine Vergangenheit als Werbefilmer zurückgreift, ein langzeitgeschärftes Auge beweist und etwa Gesetzeshüter bettelnde Kinder regelrecht wegreißen läßt wie Raubvögel ihre unglückselige Beute. Selbstverständlich weiß Davis außerdem, welche emotionalen Knöpfe bei Druck höchste Wirksamkeit entfalten, weswegen besagte Szene direkt einem Moment folgt, der ein simples Stück Pappe zum wortlosen Transport von Zusammenhalt und Menschlichkeit inmitten inhumanen Elends nutzt.
Womit es auch an der Zeit wäre, Newcomer Sunny Pawar ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken: Ohne Frage rütteln große, traurig in die Welt blickende Augen direkt am Herz, möchte man den dürren Körper aufpäppeln, es liegt so in unserer Natur, doch käme es echtem Frevel gleich, den Jungen darauf zu reduzieren. Weil er nicht bloß einnehmend natürlich agiert, keine Berechnung kennt, sondern dem Schicksal Saroos zwischendrin gar unbeschwerte Lockerheit abzuringen vermag und seinem Blick immer kampfbereites Flackern aufsetzt. Ein Ausnahmetalent, dessen Star-Kollegen sich schnell an die Wand gespielt wiederfinden. Darunter die bislang bereits für allerhand Preise nominierte Nicole Kidman als zukünftige tasmanische Pflegemutter. Sie beweist Opferbereitschaft und Hingabe an die (Neben-)Rolle in Form gleich zweier würdig getragener schauderhafter Frisuren, wohingegen zumindest im Original unablässiges Flüstern entweder auf stimmliche Probleme hindeutet oder dem Gewisperten dramatischen Druck verleihen soll. Völlig unnötig, schließlich speist sich jener aus dunklen Wolken über Saroos (nunmehr erwachsen, verleiht Dev Patel dem innerlich Zerrissenen Ausdrucksstärke) Adoptivfamilie, der nicht vollständig harmonischen Beziehung zur sanften Lucy – hier fesselt Rooney Maras stille Zurückhaltung – sowie seinem nagenden Traum: irgendwie das ehemalige Zuhause finden, Mutter und Geschwister wiedersehen! Google Earth soll helfen …
Stück für Stück setzt Davis eine Story zusammen, die – obwohl tatsächlich geschehen, um das nochmals zu erwähnen – eigentlich total unglaublich klingt, wie auf den Publikumserfolg hingebogen. Und er tut es ungeachtet mangelnder Kino-Erfahrung derart professionell, daß zwei Worte am besten dazu passen: potentieller Zuschauerliebling. Ein genau solcher sollte LION nämlich auch hierzulande sicher werden, inklusive schon erwähnter mimischer Hingabe, stummen Blicken und Gesten, leisen Lächeln, lauten Ausbrüchen. Zu denen ganz logisch das Klavier als gefühlsüberbringendendes Instrument der Wahl tönt, während verzaubernde Landschaftsaufnahmen die Seele streicheln, ein Rundum-Verwöhnpaket quasi.
Was andernorts kalkuliert wirkt, kreidet man LION viel weniger an, zu ehrlich scheinen es sämtliche Beteiligten zu meinen. Und so bereitet er sich praktisch selbsttätig, der Nährboden für tiefe Rührung, spätestens einsetzend, wenn nüchtern nachfragende Zeitgenossen final endlich erfahren, was es mit dem titelgebenden Löwen auf sich hat.
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...