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Louisa

Diesseits der Stille

Die Kamera schwenkt fast zärtlich über die Hände einer jungen Frau, die sich durch unzählige, von oben bis unten vollgeschriebene Blätter wühlen. Es ist die über Jahre hinweg von Ärzten dokumentierte Krankengeschichte von Louisa, die plötzlich einen Satz vorliest: „Louisa Pethke, geboren am 5.11.1984, leidet an einer progredienten Innenohr-Schwerhörigkeit.“ Pause. Noch immer sind nur die Hände zu sehen. Dann wiederholt Louisa mit einem verächtlichen Ton in der Stimme: „ ... leidet.“

Daß sie das tatsächlich nicht tut, zeigt dieser ganz besondere Film ihrer Schwester. Die begleitet Louisa auf Konzerte, in die Uni und den Plattenladen. Die Regisseurin Katharina Pethke folgt ihr mit der Kamera in diese Bereiche und macht sie für uns erfahrbar. Die Kamera wird dabei zu unserem Auge, der Ton zu unseren Ohren. Wir sehen keinen Film, wir werden der Film. Viel hat mit Musik zu tun, oder dem, was davon übrig bleibt, wenn man nichts mehr hört. Und doch scheint erst mal nichts anders zu sein an Louisa als bei anderen Mädchen ihres Alters. Sie hat ihre Schwerhörigkeit, die sich mehr und mehr zur Taubheit entwickelt, augenscheinlich gut im Griff. Sie liest von den Lippen und kann sich gut mitteilen. Sogar eine Operation wäre möglich, und das Implantat könnte ihr das Hören zurückgeben. Aber will sie das – hören?

Es ist der Moment der Emanzipation, den sich die Regisseurin aus dem Gesamtgefüge eines Lebens herausgenommen hat. Der Punkt, an dem Louisa sich ihrer selbst als Gehörlose wirklich bewußt wird. Nun muß sie entscheiden, zu welcher Welt sie gehören will. Und die Entscheidung über eine Operation ist dabei nur äußeres Kennzeichen für den von ihr als massiven Eingriff empfundenen Druck ihrer Eltern, sich der Welt der Hörenden anzupassen. Damit soll jetzt Schluß sein, mit allen Konsequenzen, die das für ihr Leben und ihre Familie hat.

Dieser Film ist ein echtes Erlebnis. Denn er geht über die reine Dokumentation der Wirklichkeit hinaus, macht uns die Welt, in der Louisa lebt, (be)greifbar. So bleiben von einem Gespräch in der Stadt nur noch Münder übrig, weil die Aufmerksamkeit aufgrund der lauten Umgebungsgeräusche nur noch darauf konzentriert ist. Hier wird mit einer Kamera gearbeitet, die wie die Protagonistin zwischen der Welt der Hörenden und der Welt der Gehörlosen wechselt. Ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk, welches nicht auf der formalen Ebene stecken bleibt, sondern thematisch und inhaltlich voll auf den Punkt kommt.

D 2011, 80 min
FSK 0
Verleih: Real Fiction

Genre: Dokumentation

Stab:
Regie: Katharina Pethke
Kamera: Katharina Pethke

Kinostart: 05.07.12

[ Marcel Ahrenholz ] Marcel mag Filme, die sich nicht blind an Regeln halten und mit Leidenschaft zum Medium hergestellt werden. Zu seinen großen Helden zählen deshalb vor allem Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij, Michelangelo Antonioni, Claude Sautet, Krzysztof Kieslowski, Alain Resnais. Aber auch Bela Tarr, Theo Angelopoulos, Darren Aronofsky, Francois Ozon, Jim Jarmusch, Christopher Nolan, Jonathan Glazer, Jane Campion, Gus van Sant und A.G. Innaritu. Und, er findet Chaplin genauso gut wie Keaton ...