Gleich vorweg: Vier Stunden dauert das symphonische Œuvre. Vier ganz und gar mitreißende Stunden wohlgemerkt, und das muß man diesem japanischen PULP FICTION, der nicht umsonst zum Liebling des letzten Berlinale-Forums avancierte, erst mal nachmachen. Entgrenztes Kino heißt hier aber nicht nur Überlänge. Auch die Geschichte läßt sich kaum zusammenfassen, sondern ähnelt eher einer ausufernden Phantasmagorie, die Regisseur Sono Sion mit größter Spielfreude in Szene setzt.
Im Zentrum steht der Jugendliche Yu. Die Mutter ist tot, Yu lebt zusammen mit seinem Vater, einem katholischen Priester. Dann wird sein Vater von der äußerst dominanten Kaori in Versuchung geführt. Der Vater läßt seine Verunsicherung am Sohn aus, zwingt ihn täglich zur Beichte, bis der Sohn anfängt, sich Sünden auszudenken, um den Vater zufrieden zu stellen. Doch das reicht nicht, er muß die Sünden auch begehen – und nichts bringt den Vater so aus der Fassung wie „wirkliche“, das heißt erotische Sünde.
Yu wird schließlich zum „König der Perversen“, zum Anführer einer Bande von Fotovoyeuren, die die Kunst, Schulmädchen heimlich unter den Rock zu fotografieren, in Kung-Fu-Manier zelebrieren. Und da sind wir noch lange nicht bei Yoko, Kaoris männerhassender Stieftochter, in die sich Yu, allerdings verkleidet als „Miss Scorpion“, unsterblich verliebt. Und bei Koike, brutale Anführerin der mafiösen Zero-Sekte, die einst ihren eigenen Vater kastrierte und nun Yus Vater, Kaori und Yoko in ihre Fänge bringt, um sie einer Gehirnwäsche zu unterziehen.
Diverse religiöse Motive dienen als Leitfaden für alle möglichen Spielarten auch pervertierter Liebe, ohne daß diese allzu ernst genommen würden. Im Gegenteil, der Film springt leichtfüßig von Genre zu Genre: vom Liebesdrama zum Gangsterfilm, vom Martial-Arts-Film zu Teenie-Klamotte und Shakespearescher Verkleidungskomödie, mal albern, mal hochpathetisch und garantiert kein Auge trocken lassend. Dynamisch hält er es auch mit der Zeit, springt vor und zurück, rafft Ereignisse aus anderem Blickwinkel noch einmal zusammen.
Ein fast permanenter Musikteppich, der ähnlich wie in MAGNOLIA die vielen Versatzstücke der Handlung miteinander verbindet, führt europäische Klassik (vor allem Beethoven und 15 Minuten „Bolero” Non Stop!) mit japanischer Popmusik zusammen. Kurz, der Film ist vieles auf einmal: wunderbar respektlos und zugleich eine einzige Hymne an die Liebe.
Originaltitel: AI NO MUKIDASHI
J 2008, 237 min
Verleih: REM
Genre: Schräg, Liebe
Darsteller: Nishijima Takahiro, Mitsushima Hikari, Ando Sakura
Regie: Sion Sono
Kinostart: 31.12.09
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...