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Lucy (2006)

Mama, Papa und ein Kind zu viel

Ein Land träumt sich eine Zukunft voller bewußter Mütter, verantwortlicher Väter und krankenversicherter Eliteschüler, die Hand in Hand um eine kostenlose Kindertagesstätte tanzen. Bis dieser Traum sich erfüllt, und das wird er ganz gewiß, muß man die Realitäten zur Kenntnis nehmen. Bisher fühlten sich dafür im Kino vor allem Dokumentarfilmer zuständig. Doch es gibt auch eine Spielart der Fiktion, in der man sehen kann, was los ist, die draufhält, wo sich Angriffsflächen bieten. Die Treffsicherheit macht den Unterschied.

Dieses Berlin zum Beispiel, das auch Kassel sein könnte. Diese junge Mutter, die Maggie oder sonstwie heißen mag. Sie plagt sich damit ab, zwischen Disco und Wickeltisch, abgebrochener Schule und noch lange nicht angebrochener Ausbildung in den festen Stand zu kommen. Sie hat zu wenig Kraft, um klare Forderungen an den neuen Freund, um Ansprüche an sich selbst zu formulieren. Ihre Träume stammen aus dem Fernseher. Und weil es dort Patchwork-Familien gibt, ist sie zufrieden mit dem Stückwerk aus neuer Waschmaschine und Jugendzimmer-Ambiente, das ihr Gordon, der Neue von neulich Nacht, jetzt bietet. Die viel zu junge Oma ist begeistert vom Idyll mit Kaffee und Kuchen, nicht zuletzt davon, die Wohnung wieder für sich zu haben.

Versierte Gespräche, überhaupt zu Ende gesprochene Sätze und zu Ende gedachte Gedanken sucht man hier vergebens. Genau so wenig wird man Babyglück finden. Denn Lucy ist das Windelpaket, das hinter der Tür liegt, das beiläufig auf den Arm genommen und wieder abgelegt wird. Die sozusagen geduldete Titelheldin bleibt zuallererst Konkurrentin: um die Hauptrolle in einem Leben, das sich Maggie und Gordon "irgendwie relaxter" vorgestellt haben.

Henner Wincklers Teenager-Rollenspiel ist ein Drama ohne Zuspitzung, eine Tragödie ohne Tote, eine vor Alltäglichkeit triefende Bilderfolge ohne vordergründig künstlerischen Anspruch. Seine Milieustudie hat - traurig genug - keine Pointe. Sparsame Filmwelten wie diese, die statt des großen ästhetischen Wurfs mit kleinen Steinchen nach dem Jetzt und Hier schmeißen, sind vielleicht, nein: sicher nicht schön. Aber sie liefern dem kritischen Blick auf das "Du bist Deutschland"-Gefühl die Beweise: Doppelbilder der Wirklichkeit.

D 2006, 92 min
Verleih: Piffl

Genre: Drama, Erwachsenwerden

Darsteller: Kim Schnitzer, Gordon Schmidt, Feo Aladag

Stab:
Regie: Henner Winckler
Drehbuch: Henner Winckler

Kinostart: 10.08.06

[ Sylvia Görke ]