Die Geschichte ist wirklich so einfach wie nur denkbar: Jean, ein solider Typ mit eher schlichtem Gemüt, Maurer, Familienvater, lernt die Lehrerin seines Sohnes, Mademoiselle Chambon, kennen und ist darauf schlichtweg nicht vorbereitet. Über die Hälfte des Filmes umkreisen sie einander bei zufälligen und nicht ganz zufälligen Gelegenheiten, und wir schauen dabei zu, wie sich diese zwei gründlich ineinander verlieben. Das ist auch schon fast alles, und doch: Mehr kann man von einem Liebesfilm wirklich nicht erwarten.
Stephane Brizé legt größten Wert auf die Ausführlichkeit und den Reichtum des Momentes. Er erzählt in langen Einstellungen, in denen weniger Worte als vielmehr verstohlene Blicke walten. Behutsam bringt er die Gefühle auf den Punkt. Es läßt sich ziemlich genau nachvollziehen, wann bei wem jeweils einer dieser Verliebtheitsschübe stattfindet, wann wieder ein Stück Kontrolle über das eigene Leben verloren geht, und wie bezaubernd das ist.
Zum Beispiel, als er sie zum ersten Mal spielen hört. Er ist bei ihr, um den Fensterrahmen neu einzusetzen, stöbert in ihrem Wohnzimmer und entdeckt die Geige. Sie spielt aus Scham nur unter der Bedingung, mit dem Rücken zu ihm stehen zu dürfen. Es gibt also nicht einmal einen direkten Blickkontakt. Aber einen intimeren Moment kann man sich trotzdem kaum vorstellen. Na gut, die Geschichte geht natürlich noch weiter. Jean hat ja auch eine (nebenbei: sehr attraktive) Frau und einen Sohn, er pflegt regelmäßig seinen Vater. Er ist in familiärer Hinsicht das Gegenteil von Mademoiselle Chambon, die als Aushilfslehrerin nie lange an einem Ort verweilt. Aber es bedarf ebendrum als Erklärung für seine Gefühle weder einer Ehekrise – Jean ist nicht unglücklich – noch irgendwelcher Eifersuchtszenen für den weiteren Handlungsverlauf. Auch scheint es allzu natürlich, daß er in diesem Moment erstmals die Routine seines bisherigen Lebens empfindet. Kein großes Drama. Davon abgesehen, daß in der Gesellschaft, in der Jean nun einmal lebt, kein Platz ist für eine zweite Liebe, ein zweites Leben.
Sandrine Kiberlain in ihrer mädchenhaften, scheuen Art und der sanfte Brummbär Vincent Lindon sind für dieses kleine, angenehm zurückgenommene Drama perfekt besetzt. Daß sie selber mal ein Paar waren, spielt keine Rolle. Würde jemand erzählen, sie hätten sich bei den Dreharbeiten gerade frisch ineinander verliebt, wäre das absolut glaubwürdig.
Originaltitel: MADEMOISELLE CHAMBON
F 2009, 101 min
FSK 0
Verleih: Arsenal
Genre: Drama, Liebe
Darsteller: Sandrine Kiberlain, Vincent Lindon, Aure Atika, Jean-Marc Thibault
Regie: Stephane Brizé
Kinostart: 12.08.10
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...