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Männer al dente

Ein Befreiungsschlag im Nudelland

Italien ist ein schönes Land. Toskana und Sizilien, Gianna Nanini und Paolo Conte, Carpaccio und Pasta in vielerlei Variationen. Italien ist aber auch ein finsteres Land. Lampedusa und Müllberge, Al Bano und Romina Power, Mafia und Berlusconi in vielerlei Verstrickungen. Vor allem aber ist Italien ein sehr stolzes und widersprüchliches Land, und damit Heimat eines Filmgeschehens, in dem ein Regisseur wie Ferzan Ozpetek oft nur anecken kann. Denn: Lange her sind die Zeiten, als das italienische Kino relevant und Hochburg des filmischen Neorealismus war. In den 50ern kamen dann unzählige LIEBE/HOCHZEIT/SCHEIDUNG-AUF ITALIENISCH-Filme, schließlich blühte der Spaghetti-Western und dann lange nichts. Ernst zu nehmen war das italienische Kino doch erst wieder durch Filmemacher wie Giuseppe Tornatore und eben Ozpetek.

Und gerade Letzterer kratzte mit Geschichten über die Mittelschicht an der bürgerlichen Fassade, weil er sie mit schrillen, schrägen, schwulen Farbtupfern bekleckste. Und damit war er seinem spanischen Filmbruder Almodóvar recht ähnlich, manchmal – so bei DIE AHNUNGSLOSEN – schielte er sogar ganz ungeniert übern Rand der Pyrenäen. Und heute, da kriselt das italienische Kino sich thematisch mal wieder mit Aufgüssen platter Komödienhits. Und wer hält dagegen? Tornatore etwa mit dem epischen BAARÍA und eben Ozpetek mit MÄNNER AL DENTE. Es ist eine wunderbare, recht durchgedrehte, mit allen Emotionen scheppernde Familiensaga, die eben fabelhaft zu diesem Italien, wie es sich heute präsentiert, paßt: Ein bißchen gaga, zuweilen schrill, manchmal verlogen, dabei immer mit stolzer Brust ein Leben verteidigend, das zwischen süßem Far niente und Großmachtsanspruch protzt. Die Cantones sind ein einflußreicher Haufen, ihnen gehört ein Nudelunternehmen. Selbstverständlich, daß da die Söhne hineingeboren werden, daher studieren sie ja auch Wirtschaft, oder behaupten es zumindest. Und da ja die alte Lebensweisheit gilt „Unter jedem Dach ein Ach“, lassen es die Nachgeborenen Tommaso und der etwas ältere Antonio gehörig „achen.“ Die Wahrheit über Leben, Lust und Studium soll endlich ans Licht, so gesteht es Tommaso seinem Bruder, doch der kommt ihm beim Familienessen zuvor ...

Auch wenn sich das Presseheft müht und um das „S“-Wort herum scharwenzelt, wohl in Vermarkterangst, schon zu viel zu verraten, spielen wir mal Petze: Tommaso wollte sich als schwul outen, sein Bruder tut es vor ihm. Das zu wissen, verrät nämlich von der Dynamik der Geschichte noch gar nichts, da die Cantones ja nun wirklich mehr als diese zwei Geheimnisse haben. Und über den Rest aller Lügen wacht die Großmutter ...

Ja, es ist ein leichter Film geworden über eine Familie, die alles zu haben scheint – außer Ehrlichkeit. Immer gilt es – gerade für den kollabierenden Familienvater – den äußeren Schein zu wahren, Etikette steht vor Lebenslust. Und damit sticht Ozpetek tatsächlich ins Wespennest einer Nation, denn weil er den Jungs erst in einem derart erwachsenen Alter die Chance zur Selbstbestimmung gibt, enttarnt er wie nebenher einen erzreaktionären Konservatismus, mitten in Europa. Da Ozpetek aber nicht den Politfilmer gibt, tut er dies mit Humor, einer sanften Prise Hysterie und jeder Menge Charme, was ja umso wirkungsvoller ist.

Und vor allem unterhaltsamer – wofür manche Verbeugung vor der klassischen Seifenoper steht, was für gehöriges Tempo und jede Menge Wortwitz sorgt und schließlich in eine sehr campe Wassertanznummer mündet. Hart an der Schmerzgrenze führen Tommasos schwule Freunde aus Rom den Baccara-Schlager „Sorry, I’m A Lady“ auf, was ein wenig an Ozons Performance der Verzweifelten in TROPFEN AUF HEISSE STEINE erinnert. Almodóvar, Ozon, Ozpetek – nicht die allerschlechteste Gesellschaft, möchte man meinen ...

Originaltitel: MINE VAGANTI

I 2010, 110 min
FSK 0
Verleih: Prokino

Genre: Schwul-Lesbisch, Tragikomödie, Familiensaga

Darsteller: Riccardo Scarmarcio, Alessandro Preziosi, Nicole Grimaudo

Regie: Ferzan Ozpetek

Kinostart: 15.07.10

[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.