Hartnäckig hält sich der Vorwurf, Lars von Trier mache Filme über ein Land, das er nie besucht hat. Doch selbst wenn sich ein Beweisfoto fände, das den dänischen Großmagier vor dem Weißen Haus ertappte, so sollte man es tunlichst verschwinden und die Legende weiterleben lassen - als eines der schönsten Plädoyers für die Reisefreiheit im Kopf.
Von Trier war so frei, die in DOGVILLE begonnene Expedition durch die USA fortzusetzen. In MANDERLAY hat er nun alles für die Ankunft der Gangstertochter Grace vorbereitet: die Bühnenkulissen stehen, die Straßen sind auf den Bretterboden gezeichnet und beschriftet, Ensemble, Beleuchter und Geräuschemacher warten nur darauf, imaginäre Türen zum Knarren und einen moralischen Konsens ins Wanken zu bringen. Auch für das zweite Lehrstück seiner USA-Trilogie greift von Trier also auf die Mittel des Theaters zurück, und es ist erstaunlich, wie wenig sich dieses ästhetische Konzept nach einmaligem, ja nachgerade unvorsichtigem Gebrauch verschlissen hat. Es funkelt wie neu - ein immer noch unsicheres, nach wie vor unbequemes Filmgelände, das trotz aller Übersichtlichkeit nur so wimmelt von Fallen und doppelten Böden, aus dem sich dann und wann phantastische, traurig-poetische Kinobilder lösen. Es funkelt höchsten ein bißchen einsamer ohne die glanzvoll ätherische Nicole Kidman, die das hündische Dogville vor zwei Jahren den Flammen übergab.
Auf Grace, die mit Bryce Dallas Howard kindlicher, aber auch energischer geworden ist, wartet in Manderlay eine Überraschung. Im Jahr 1933, während Europa sich anschickt, in die Barbarei zurückzufallen, herrschen auf dieser Plantage Zustände, die ihr durch und durch aufgeklärtes Gemüt nicht dulden kann: Sklaverei, geschlagene siebzig Jahre nach deren offizieller Abschaffung. Schnell sind die weißen Herren und ihre greise Patriarchin entthront. Als die Alte stirbt, hinterläßt sie der nunmehr befreiten Gemeinschaft, den zu Hilfe geeilten Gangstern und deren Anführerin Grace "Mam’s Law", ein schändliches Gesetzbuch, nach dem das Unrecht auf Manderlay geregelt wurde. Und die Schwarzen, sind die etwa fröhlich und dankbar? Nun, Grace wird ihnen die Skepsis, mit dem sie das Geschenk der Freiheit auspacken, schon vertreiben helfen.
Von Trier, der Undankbare, schaut dem Geschenk ins Maul. Die Allegorie um bewaffnete Heilsbringer, verunsicherte Befreite und die Unwissenheit des reinen Herzens spricht mit der ironischen Einfachheit von "Onkel Toms Hütte" und trifft mit dem komisch bösen Pessimismus von Voltaires "Candide". In dieser "besten aller Welten", unter den Freien und Gleichen von Manderlay, entfesselt sich eine Demokratie-Parabel, in der die Uhrzeit zur Abstimmung steht, in der Graces erotische Träume von schwarzer Haut ihre so kämpferisch vorgetragene Farbenblindheit Lügen strafen, in der auch der gütigste aller Menschen vor Hunger jeden Mord begeht. Und der Hunger wird kommen ...
Ging man in DOGVILLE auf Scherben, so tritt man in MANDERLAY auf Nägel. Fast noch heimlicher, noch beiläufiger sind die moralischen Fallstricke gespannt, oft, um sie erst Szenen später so stramm zu ziehen, daß auch der Aufrechteste mit all seinem Wissen um Gut und Böse ins Straucheln gerät. Mit von Trier fällt man eben nicht weich - aber doch zumeist klug.
Originaltitel: MANDERLAY
DK 2005, 139 min
Verleih: Legend Filmverleih
Genre: Drama, Experimentalfilm
Darsteller: Bryce Dallas Howard, Willem Dafoe, Isaach de Bankolé, Danny Glover, Lauren Bacall, Jean-Marc Barr, Jeremy Davies, Chloë Sevigny
Stab:
Regie: Lars von Trier
Drehbuch: Lars von Trier
Kinostart: 10.11.05
[ Sylvia Görke ]