Das Unbehagen stellt sich mit der ersten Szene ein. Martha bewegt sich auf ein Gebäude zu, welches - ein wenig unscharf und dunkel beinahe - das ganze Bild ausfüllt. Die junge Frau auf ihrem Weg bleibt an den Rand gedrängt. Das Haus ist das der Eltern, ein Haus indem sie keine Begrüßung erwartet. Die Mutter umarmt sie nicht, spricht sie mit dem falschen Vornamen an. Ihren Namen laut schreiend verläßt Martha diesen Ort, nur ein paar Minuten sind vergangen ...
Sandrine Veysset (GIBT ES ZU WEIHNACHTEN SCHNEE?) führt Martha als eine unglückliche Heldin ein. Mit Mann und Tochter Lise lebt sie am Abgrund. Der Verkauf von Second-Hand-Textilien auf Flohmärkten sichert der Kleinfamilie eine schmale materielle Existenz. Der Vater kümmert sich intensiv um Lise und zeigt sich Marthas enormem Anspruch auf Freiräume gegenüber tolerant, mehr noch, er trägt diesen mit und versucht somit auch Martha zu tragen. Dennoch bewegt sie sich auf den Abgrund zu. Mit Spontaneität versucht sie, dem Verlust ihrer psychischen Existenz entgegen zu wirken. So unternehmen die drei eine Reise nach Spanien zu Marthas Schwester. Aber das Unbehagen reist mit, ist in jeder Szene spürbar, ohne daß es erklärender Dialoge bedarf und langer Einstellungen. Die Spannung von Veyssets Film findet sich oft im Unausgesprochenen und im Ausgelassenen, im nicht Gezeigten. Scheinbar harmlose Alltagsszenen illustrieren den Untergang Marthas.
Als sie nach einer Vergewaltigung verschwindet, bleiben Lise und der Mann allein zurück. Zögernd beginnen beide ein neues Leben. Marthas Abwesenheit bleibt jeden Moment spürbar, dennoch kommt diese Zweisamkeit einer Atempause gleich. Als die Mutter zurückkehrt, ist sie nicht mehr dieselbe. In einer Szene flüstert Lise dem Vater zu, dies sei nicht ihre Mama. Hier tritt eine Beobachtungsperspektive des Filmes hervor, nämlich die des Kindes.
Zum einen ist es die unbedingte Liebe zur Mutter, die dem Zuschauer diesen Blick nahelegt, zum anderen der in surrealen Bildern erzählte Alptraum Lises. Am Ende bewohnt die Familie ein einsames Haus, umgeben von idyllischer Natur. Hier entzieht sich der Film letztlich einer eindeutigen Wahrnehmung. Ob Martha sich wiederfindet oder ob sie sich endgültig verliert, bleibt offen.
Originaltitel: MARTHA... MARTHA
F 2001, 97 min
Verleih: Peripher
Genre: Drama
Darsteller: Valérie Donzelli, Yann Goven, Lucie Régnier
Regie: Sandrine Veysset
Kinostart: 17.04.03
[ Jane Wegewitz ] Für Jane ist das Kino ein Ort der Ideen, ein Haus der Filmkunst, die in „Licht-Schrift“ von solchen schreibt. Früh lehrten sie dies Arbeiten von Georges Méliès, Friedrich W. Murnau, Marcel Duchamp und Man Ray, Henri-Georges Clouzot, Jean-Luc Godard, Sidney Lumet, Andrei A. Tarkowski, Ingmar Bergman, Sergio Leone, Rainer W. Fassbinder, Margarethe v. Trotta, Aki Kaurismäki und Helke Misselwitz. Letzte nachhaltige Kinoerlebnisse verdankt Jane Gus Van Sant, Jim Jarmusch, Jeff Nichols, Ulrich Seidl, James Benning, Béla Tarr, Volker Koepp, Hubert Sauper, Nikolaus Geyrhalter, Thierry Michel, Christian Petzold und Kim Ki-duk.