Noch keine Bewertung

Mein Bruder ist ein Einzelkind

Konfliktreiches Familienbild in einem bewegten Jahrzehnt

Latina, Italien, 1962. Im einst von Mussolini gegründeten Städtchen ist Accio als jüngstes dreier Geschwister aufgewachsen. Nach dem gescheiterten Versuch, eine Laufbahn als Priester einzuschlagen und dem ebenso fehlgeschlagenem Bemühen, sich wieder in die eigene Familie zu integrieren - diese im Übrigen hat dem ewig streitenden Kummerkind längst den Beinnamen "Giftkröte" verpaßt - gelangt er über den väterlichen Freund Mario in die Reihen der Neo-Faschisten. Die Konflikte mit dem älteren Bruder Manrico, einem engagierten Kommunisten, nehmen zu. Jahre später stehen sich die beiden bei Demonstrationen gegenüber und Francesca, die hübsche Freundin Manricos, sorgt bald für weitere Spannungen zwischen den Brüdern. Doch während Accio, der die Streitgespräche mit den Kommunisten liebt - und, wenn auch heimlich, ebenso Francesca, sich über die Jahre von den Überzeugungen seiner politischen Freunde verabschiedet, steigert sich Manricos Radikalität.

Daniele Luchetti, Regisseur aus dem Umkreis Nanni Morettis, erzählt vom Heranwachsen zweier ungleicher Brüder im Italien der 60er und 70er und verhandelt gleichsam ein Jahrzehnt der Geschichte seines Landes, welches nicht ohne Bezüge ist zur politischen Situation der Gegenwart. Im Stil nicht auf die Entladung eines latenten dramatischen Konflikts zugeschnitten - das erwartete finale Aufeinanderprallen der Brüder, ob der politischen Einstellung wegen oder der Liebe zu der gleichen Frau, bleibt aus - zeigt sich der Film ganz auf ein realistisches Zeitbild konzentriert. Der gleichzeitige Einsatz mehrerer Kameras gewährt den Schauspielern dabei größtmögliche Spielfreiheiten, die sie sichtlich auskosten. Neben Elio German (in der Rolle des älteren Accio), der für seine Darbietung den italienischen OSCAR "Donatello" abräumte und in die Riege der europäischen Shooting-Stars aufrückte, glänzt hier neben anderen Angela Finocchiaro in der Rolle der Mutter mit großer Präsenz.

Mit einer Mischung aus Humor und Tragik, mit überzeugenden Darstellern, beinahe dokumentarisch wirkenden Szenen, einer Musik, die das Zeitkolorit auch auf der Soundebene einlöst, und in zügigem Tempo inszeniert, ist hier ein Film entstanden, den man, authentisch und unterhaltend zugleich, nicht missen möchte.

Originaltitel: MIO FRATELLO È FIGLIO UNICO

I 2007, 100 min
Verleih: Kool

Genre: Drama

Darsteller: Elio Germano, Riccardo Scamarcio, Diane Fleri

Regie: Daniele Luchetti

Kinostart: 22.05.08

[ Jane Wegewitz ] Für Jane ist das Kino ein Ort der Ideen, ein Haus der Filmkunst, die in „Licht-Schrift“ von solchen schreibt. Früh lehrten sie dies Arbeiten von Georges Méliès, Friedrich W. Murnau, Marcel Duchamp und Man Ray, Henri-Georges Clouzot, Jean-Luc Godard, Sidney Lumet, Andrei A. Tarkowski, Ingmar Bergman, Sergio Leone, Rainer W. Fassbinder, Margarethe v. Trotta, Aki Kaurismäki und Helke Misselwitz. Letzte nachhaltige Kinoerlebnisse verdankt Jane Gus Van Sant, Jim Jarmusch, Jeff Nichols, Ulrich Seidl, James Benning, Béla Tarr, Volker Koepp, Hubert Sauper, Nikolaus Geyrhalter, Thierry Michel, Christian Petzold und Kim Ki-duk.