Originaltitel: GOOD LUCK TO YOU, LEO GRANDE
GB 2022, 97 min
FSK 12
Verleih: Wild Bunch
Genre: Tragikomödie, Erotik
Darsteller: Emma Thompson, Daryl McCormack
Regie: Sophie Hyde
Kinostart: 14.07.22
Zwei Kinder erzog sie zu halbwegs brauchbaren Leuten. 31 Ehejahre mit einem Mann ohne Leidenschaften stand sie bis zu dessen Tod eisern durch. Ganze Schuljahrgänge ermahnte sie, für Würde und Gerechtigkeit, für irgendetwas Höheres einzutreten, und ließ sich dabei von keinem noch so müden Teenager-Schulterzucken aus dem Konzept bringen. Kurzum: Diese pensionierte Religionslehrerin ist eine Ausdauerkünstlerin, so nervenstark wie prinzipienfest. Daß sie jetzt hier sitzt wie ein verängstigter Backfisch vor der Reifeprüfung, daß sie diese „Situation“ auch noch absichtlich herbeigeführt hat, erstaunt Mrs. Stokes selbst wohl am meisten. Zurückrudern? Zu spät! Es klopft schon an der Tür.
Nancy Stokes – so heißt sie gar nicht – empfängt in einem Londoner Hotelzimmer Leo Grande – so heißt er gar nicht – zu Schäferstündchen. Wir, die wir das Unaussprechliche zeitgemäß locker über die Lippen bringen, bezeichnen das als sexuelle Serviceleistung. Leo, der gebuchte Male-Escort-Profi, sagt dazu Meeting, und Nancy sucht derweil … ähhh … nach dem angemessenen Wort. Ausbeutung? Zumutung? Ach, wie erleichtert es sie, daß dieser junge, überraschend eloquente, frisch gewaschene und zähnegeputzte Adonis bei ihrem Anblick nicht sofort die Flucht ergreift. Doch welche Notlage zwingt ihn, der verständlichen Abscheu zu trotzen? Eine darbende, möglicherweise sogar migrantische Familie, die genährt und gekleidet sein will? Selbstredend hätte Nancy dafür Sympathie! Noch sympathischer findet sie allerdings, daß das Honorar ein Studium finanzieren soll und Leo glaubhaft versichert, sich bei der Arbeit gar nicht erniedrigt, sondern angeregt und wertgeschätzt zu fühlen. Wirklich? Wirklich! Der vereinbarte Betrag ist jedenfalls eingegangen, vielen Dank. Aber wie, Schätzchen, kommen die beiden nun endlich zur Sache? Und um welche Sache geht es eigentlich?
Nach einem Drehbuch der britischen Comedienne Katy Brand inszenierte die Australierin Sophie Hyde einen Schwank, der das grobianische Image dieser dramatischen Form schleift, bis es glänzt. Er hätte auf jeder noch so winzigen Theaterbühne ausreichend Platz gefunden, braucht er doch kaum mehr als zwei Personen, ein paar Wände und Stoff für Konversation. Raumwunder dieser Art nennt man auch Kammerspiel. Ob nun auf der Bühne oder auf der Leinwand – das Genre gilt als sparsam, aber nicht geizig. Denn was es sich an Kosten für Dekor und Personal versagt, gibt es an anderer Stelle mit beiden Händen aus: für emotionale Schluchten und Berge, nicht für Außendrehs in irgendwelchen Landschaften. So ein Kammerspiel benötigt keinen Auslauf. Auf kleiner Fläche entsteht Reibung, im besten Fall mit tragischen, komischen, deftigen Funken. Hydes Film ist so ein bester Fall: Er offenbart Ressentiments, die längst überwunden schienen. Er schiebt Dialoge an, in denen die peinlichen Pausen mindestens so verräterisch sind wie Nancys nervöses Geplapper. Er registriert, daß dieses Ton in Ton gehaltene, fleckabweisende Hotelinterieur weder zu ihrem großgeblümten Negligé noch zu ihrem „schmutzigen“ Vorhaben paßt – sieht jedoch schmunzelnd darüber hinweg.
Dirty Talk, Blowjob, Orgasmus, mit einem Sprung über das Einmaleins der rhythmischen Bettgymnastik hinweg und in Nullkommanix von 08/15 auf 69. Wer so viel nachzuholen hat, darf sich von Theorielücken und Praxismangel nicht aufhalten lassen. Vor allem muß er, nein sie – die Nancy in uns – schneller sein als die eigenen Bedenken. Frauen wie sie, denen Zweifel wie Mühlsteine am faltiger werdenden Hals hängen, landen in diesem Wettbewerb regelmäßig auf den hinteren Rängen. Jedoch gibt es eine Disziplin, die die Nancys dieser Welt meisterlich beherrschen: den gnadenlosen Blick auf die eigenen körperlichen Unzulänglichkeiten. Ein geschlechtsspezifischer Starr-Sinn, mit dem die für ihre selbstironische Grandezza verehrte Emma Thompson offensichtlich lange vor dieser Rolle bekannt wurde.
Auf der letzten Berlinale beschrieb sie ihn als unvermeidlichen Lästling, der sich in jedes weibliche Spiegelbild drängt. Die Bekanntschaft der gefeierten Aktrice, Jahrgang 1959, mit dem Newcomer Daryl McCormack, Jahrgang 1992, begann allerdings erst hier. Dabei wirkt es, als hätten die beiden nie etwas anderes getan, als auf dieser filmischen Lustschaukel zu wippen, gespannt auf den flüchtigen Moment, in dem sich zwischen Aufschwung und Herablassung gleiche Augenhöhe herstellt.
[ Sylvia Görke ]