Mütter und Söhne. Da sei zuallererst nun wirklich nicht an den ollen Heidi-Kabel-Fernsehschwank gedacht, eher an eine Art metaphysisches Bündnis, denn die Konstellation „Mutter und Sohn“ ist eine spezielle. Sie darf gar als Fundament für alles Grundsätzliche betrachtet werden: Ohne Mütter gibt es keine Söhne und ohne Söhne keine neuen Mütter. Ja, schon klar, da ächzt das Psychologiegebälk, da spuckt die Feministin wütend den Kautabak aufs Linoleum, aber doch und ganz im Ernst: Das Verhältnis von Mutter und Sohn ist ein besonderes, ein sich über alles in der Gesellschaft, in der Familie, im Zwischenmenschlichen ordnendes Bündnis.
Ein Sohn löst sich nie ganz von seiner Mutter, der Frau, die ihn gebar, ihn aufzog, schützte, prägte und im besten Fall davor bewahrte, ein Abbild seines Vaters zu werden. Natürlich gilt auch hier und sogar insbesondere: Das Maß von allem entscheidet, ob diese Bande später von Dankbarkeit oder Abscheu geprägt ist. Ein lauwarmes Mutter-Sohn-Verhältnis scheint nicht möglich, ist es doch vor allem auch ein zärtlicher, ein bittersüßer, ein zweifelsfrei fragiler Bund, in dem eine Art Geheimsprache gilt. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist – in den häufigeren Fällen – durch eine unbeirrbare Liebe geprägt. Eine an sich nicht trennbare Allianz, weswegen – und das ganze Freudsche Gezerre um Ödipus lassen wir jetzt mal aus – bei Verletzung, Trennung oder Verlust das Leben des anderen in Schieflage gerät. Jeder Sohn, der seine Mutter verlor, jede Mutter, die ihren Sohn verlor, weiß, wovon hier geschrieben steht. Manche kommen da wieder halbwegs heil raus, andere nicht. Von solch’ vulnerabler Komplexität wußten schon große Filmemacher zu erzählen, man denke nur an Bertolucci, Bergman, Almodóvar, Sheridan und Ozon.
Und nun reiht sich da ein Regieneuling ein, Håkon Liu heißt er, und man möchte wirklich nicht glauben, daß MISS KICKI sein erster Langfilm ist. Warum? Nun, weil Liu viel von vielem versteht: Ihm gelingt es auf geradezu augenreibende Weise, ganz verschiedene Erzählstränge zu einem homogenen Ganzen zu verknüpfen, er vermag es, geerdet an exotischen Orten zu erzählen, und er führt ein ganz wunderbares Schauspielerensemble zu Höchstleistungen. Und das Schönste an seinem Erstling – MISS KICKI trifft voll auf die 12, also mitten ins Herz. Doch dazu später, denn erst einmal erzählt Håkon Liu diszipliniert und chronologisch: Bereits die ersten Bilder suggerieren Einsamkeit, Sehnsucht, Orientierungslosigkeit. Eine Frau am Fenster, draußen schneit es, sie raucht, trinkt Wein, sie langweilt sich. Dann leuchtet ihr Gesicht auf, sie chattet mit einem Taiwanesen, er umschwärmt sie, gratuliert ihr zum Geburtstag und insistiert, sie solle ihn besuchen. Hoch die Tassen, „Kiss Kiss, Chin Chin, Bye Bye ...“
Es bleibt beim einsamen Vorglühen für ihre behauptete Geburtstagsfeier mit ein paar Freunden. Wenig später liegt Miss Kicki, so heißt die Dame, schlafend-trunken auf ihrem klappbaren 2-Sitzer. Man spürt es bereits, und man erfährt es kurz darauf: Sie hat hier keine Freunde, ist ziemlich allein, war wohl lange weg. Am nächsten Tag bleiben nur das Wegräumen der Weinpulle, das Zusammendrücken der Pizzaschachtel, das Putzen der Herdplatten. Doch dann kommt Leben in die Bude: Kickis Mutter taucht auf, kurzer Austausch von einigen sanften Gemeinheiten, dann ist Viktor da. Etwas schüchtern, linkisch, sympathisch verloren und mit ein paar Geschenken. Die Zwei singen Kicki ein wenig hölzern ein Geburtstagsständchen, dann nimmt die Mutter ihre Tochter kurz zur Seite.
Man sieht, wie Kicki sich windet, wie schwer es ihr fällt, und fragt sich, was ist da eigentlich geschehen? Doch Håkon Liu mit seinem beeindruckenden Gespür für filmische Syntax verrät nichts zu früh, Kicki erfüllt ihrer Mutter den Wunsch und lädt Viktor zu einer gemeinsamen Reise ein. Zum Kennenlernen, Anvertrauen, Beschnuppern. Eine Woche nach Taipeh. Kicki hat die Anschrift von Chang dabei, ihrem Chatflirt.
Natürlich hat man so seine Ahnung, diese Blicke, die ungelenken, von scheuer Liebe geprägten Umarmungen verraten es, doch Håkon Liu als Freund der Ellipse löst seine Aussparungen fristgerecht auf. Kicki war sehr lange im Ausland, bei ihrer Mutter ließ sie den 4jährigen Viktor zurück – ihren Sohn. Das Wissen darum stellt Kicki in ein differenziertes Licht. Warum tut eine Frau, eine Mutter so etwas? Um darüber mehr zu erfahren, gibt es eben Filme wie diesen, die einen an die Hand nehmen, in dem Fall in ein fernes Land führen, um Seelen zu entblättern, in einer Sorgfalt, wie es allenfalls großen Romanciers zuzutrauen wäre.
In einer Absteige kommen Kicki und Viktor unter, „Very Cheap!“, versichert der umtriebige Betreiber. Es ist schön, welch’ einfache Mittel greifen, um die Neugier aufeinander, die Scheu voreinander, die Angst umeinander zu bebildern – die dünnen Zimmerwände, durch die liebevolle und noch etwas unsichere Gutenacht-Rufe kriechen. Der nächste Tag bringt eine Trennung – Viktor erkundet die Stadt, Kicki sucht das Büro von Chang auf. Hier entstehen nun Parallelgeschichten: Der Junge verläuft sich, trifft auf den hilfsbereiten Didi, auch er im Teen-Alter. Viktor mißtraut der Hilfe des Taiwanesen – ein gebranntes Kind. Doch Didi kann er vertrauen, man sieht es an dessen Augen. Er nimmt ihn mit in seine Bude, kocht ihm Nudeln, zeigt ihm das Meer, Viktor bringt ihm dafür Schwedisch bei. Dann gibt es da immer wieder diese merkwürdig-eindeutigen Blicke zwischen den beiden.
Kicki hingegen wagt nicht den letzten Schritt, sie beobachtet Chang nur aus der Ferne. Sie braucht sicher einen zweiten Anlauf. Daß sie damit Viktor unverblümt brüskiert, ihm regelrecht weh tut, indem sie abends vorschlägt, am nächsten Tag wieder getrennte Wege zu gehen, paßt zu ihrem auch egoistischen Wesen. Kicki ist ein großes Kind, das um Aufmerksamkeit buhlt, das Zärtlichkeit braucht, selbst wenn es die nur im Suff mit dem durchaus sympathischen Hotelbetreiber gibt. Der hat übrigens Kickis Wesen ganz gut erkannt: „Sad Inside, Happy Outside!“ Er tickt wohl ganz ähnlich. Viktor enttarnt die Pläne seiner Mutter, er fühlt sich instrumentalisiert, ist verletzt und richtig sauer. Kicki kriegt von Chang eine Abfuhr, die ihr zusetzt, die sie aber auch für ihre mädchenhafte Naivität und ihren mütterlichen Egoismus abstraft. Chang gibt ihr Geld, mit der Bitte, ihn nie wieder zu kontaktieren. Diskret im Schutzumschlag vor den Augen seiner Frau und Kinder ... Life Sucks!
Hier nun explodiert der Film förmlich zu einer ganz großen Ballade über zerbrochenes Vertrauen, verletzte Seelen und diese ewig pochende Sehnsucht. Da scheut sich Håkon Liu auch nicht vor der ungebremsten Symbolik aus einsamen Hotelzimmern, dem dazu passenden Platzregen und den richtigen Songs. Doch das Leben geht weiter, und so fahren die beiden mit Didi kurz darauf an den Sun Moon Lake. Håkon Liu weigert sich auch hier, dem Märchenhaften seiner Geschichte auf den Leim zu gehen. So läßt er Viktor im Boot ein wenig träumen, Didi streichelt ihm in diesem sehr schönen Moment zärtlich den Bauch, nur um ihm kurz darauf zu sagen, daß es da trotzdem ein ganz nettes Mädchen gibt.
MISS KICKI entpuppt sich als herzzerreißende Parabel über das Glück in seiner ganzen Zerbrechlichkeit. Ohne Pilcher-Anstrich wird davon erzählt, wie schwer es zu finden und wieviel schwerer es zu halten ist. Vom Ponyhof wagte sich Viktor ohnehin nicht zu träumen, da ist er schon Realist genug, aber die eigene Insel mit Didi als Präsident, die hätte doch drin sein dürfen!
Es ist Liu hoch anzurechnen, daß er sich nicht für die Blaupause einer Schmonzette entschied, denn wie kann es anders sein, als daß es richtig kracht, wenn sich eben Mutter und Sohn, dieses untrennbare Gestirn, neu begegnen, nach so langer Zeit, nach so vielen unterschiedlichen Erfahrungen und dennoch im richtigen Moment, als beider Leben neue Fahrt braucht und richtig Fahrt gewinnt. Und auch wenn Kicki manchmal ein großes Kind, eine ziemliche Bitch gar ist, sie weiß genau, was mit ihrem Sohn gerade passiert, was mit ihm und Didi geschieht. Das ist so angenehm selbstverständlich und ohne all das sattgehörte Outing-Gedöns erzählt. Und auch Didi ist keineswegs nur Randfigur. Seine Geschichte ist zentral, sie schwebt über dem fragilen Glück von Viktor und Kicki, denn er hat seine Mama früh verloren. Der Vater trinkt und spielt. Es gibt ihn eigentlich gar nicht. Das ist auch eine Parallele zu Viktors Leben.
Damit wird MISS KICKI auch zu einem Film über die Absenz, das Versagen der Väter. Das hier zu vertiefen, führte zu weit, nur das gehört jetzt noch hierhin: MISS KICKI ist atemberaubend gespielt. Von allen! Ludwig Palmell spielt als Viktor seine erste große Kinorolle. In dieser Mischung aus Unsicherheit, Hoffnung, Verliebtheit und Mißtrauen rührt er den Zuschauer an, dieser Blick, dieses Hände-in-den-Taschen, diese vorgeschobene Oberlippe – perfekt. Der junge Huang He River hält da gut mit – da reicht ein Blick aus den auch von Kicki als schön erkannten Augen, die Didis zerrissenen Familienhintergrund bestens illustrieren! Und dann natürlich Pernilla August! Die große, die bisher vielleicht größte Pernilla August. Unvergleichbar, wie wenig eitel, wie kämpferisch, wie selbstvergessen sie die sture, die ängstliche, die liebeshungrige und über Umwege zu echter Mutterliebe fähige Kicki spielt. Man könnte beim Schreiben schon wieder heulen.
Originaltitel: MISS KICKI
S/Taiwan 2009, 85 min
FSK 12
Verleih: Barnsteiner
Genre: Drama
Darsteller: Pernilla August, Ludwig Palmell, Huang He River
Regie: Håkon Liu
Kinostart: 11.10.12
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.