Originaltitel: MOMMY
Kanada/F 2014, 139 min
FSK 12
Verleih: Weltkino
Genre: Drama, Liebe
Darsteller: Anne Dorval, Antoine-Olivier Pilon, Suzanne Clément
Stab:
Regie: Xavier Dolan
Drehbuch: Xavier Dolan
Kinostart: 20.11.14
Die Aussichten sind trüb – Knast oder Geschlossene. Nein, Xavier Dolan erzählt keine Schwerverbrechergeschichte, und er setzt auch keinen durchgeknallten Psycho ins Zentrum seines – man muß es schon jetzt verraten – mal wieder großartigen Films. Steve ist 15, schwierig, wie seine Oma früh erkannte, und ja, auch von einer pathologischen Gewaltbereitschaft. Aber erst einmal ist er 15, wirklich kein schlechter Kerl, und der Satz, der seiner, nun sagen wir mal, unkonventionellen Mutter Diane entgegenschallt, als sie ihren Jungen aus einer Betreuungsanstalt abholt, klingt wie aus dem Ratgeber für ganz schlechte Jugendamtsmitarbeiterinnen: „Steve hatte seine Chance!“ Was ist das für eine Welt, in der schon Chancen durchnumeriert werden?
Aus dieser Welt heraus, die vom traumatischen Verlust des Vaters, von Aufenthalten in Sonderschulen und Spezialeinrichtungen geprägt ist, erzählt MOMMY. Und weil Dolan ganz sicherlich ein Skeptiker, ein Fragensteller, aber zweifellos auch ein Hoffender ist, der an die Liebe glaubt, gönnt er der schrägen Diane und ihrem Jungen einen Neuanfang. Und was für einen! Einen mit heftigsten Schwankungen aus beider Überfreude, aus Dianes verzweifelt-unorthodoxen Erziehungsversuchen und den Gewalt-attacken Steves als Replik darauf. Es folgt der gemeinsame Versuch einer Neuordnung, an welcher die schweigsame, ebenfalls traumatisierte Nachbarin Kyla großen Anteil hat. Sie gibt Steve Nachhilfeunterricht, während Diane sich um Arbeit bemüht.
Hier gelingen Dolan nach einer ziemlich explosiven Ouvertüre ruhigere, ganz zärtliche Momente: dieser melancholische Tanz der Drei in der Küche zu den Klängen von „On ne change pas“ aus der Kehle von Kanadas Nationalheiligtum Celine, die Tour mit den Rädern, bei der die Luft aus Steves schmaler, sonst so schnell so wütender Brust ein zauberhaft jubilierendes „Liberté“ zu formen vermag. Genau dann gönnt Dolan seinen Rittern gegen all die Mühlen einen breiteren Blick in eine hoffentlich bessere Zukunft, dann zieht er das Kastenbild- ins Breitbildformat. Ein winziger, fast unmerklicher und dabei so effektiver Hoffnungsblick, doch auch diese Perspektive leidet an der Kurzfristigkeit. Das Leben, so scheint es, so erzählt es die Liebesgeschichte zwischen Steve und seiner Maman, hat immer noch einen Kurier in petto, den es genau in den karg gesäten Momenten des Glücks mit schlechten Nachrichten in die Laufbahn schickt. Steves Wut, meinethalben seine „Störung“, wird unkontrollierbarer und vor allem für Diane zu einer geradezu physischen Bedrohung. Diane trifft eine schwerwiegende, wohl kaum zu revidierende Entscheidung.
MOMMY ist zweifellos Xavier Dolans heftigster, kraftvollster, ja wuchtigster Film, weil er radikal – in seinen Mitteln, in der Zeichnung seiner Figuren und mit einer wahrlich grauenvollen dystopischen Prämisse – von einer kaum zu fassenden Liebe erzählt, weil er auf jeglichen Narzißmus der Charaktere seiner früheren Filme verzichtet, weil er Diane und Steve ohne Filter, in einer derben Sprache und fast wie wilde Tiere aufeinanderstoßen läßt. Verletzend sicher, doch niemals nachtragend, immer unbändigend liebend! Da geht es durchaus als astreine und keineswegs prekär gefärbte Liebeserklärung durch, wenn Diane ihm nachruft, daß er selbst zum Kacken zu dumm sei. Oder wenn Steve auf Huberts Pfaden wandelt, der in I KILLED MY MOTHER ebenfalls seiner Mama versicherte, daß sie ein Team seien. Man habe doch schon Schlimmeres überstanden! Das ist so rein, so archaisch, gänzlich bar jeder Sentimentalität. Und wenn Diane in ihrer Ohnmacht und in Wut aus ihrem Prinzen einen Mongo werden läßt, dann ist das kaum böse, es stimmt nur traurig, weil Verzweiflung blöde Fratzen ziehen läßt.
MOMMY öffnet brutal sein Visier, wie schwer ist es doch, sich zu lieben und trotzdem Angriffe zu starten oder Entscheidungen zu treffen, die diese Liebe eigentlich konterkarieren. Xavier Dolan erzählt von der Angst, eines Tages vielleicht weniger zu lieben oder weniger geliebt zu werden, es geht ihm einmal mehr um die perfideste aller Ängste, die einen schon in den Wahnsinn treiben kann: die ganz häßliche Angst, die unbezwingbare, die vom Verlust. Der junge Filmemacher ist ein genauer Beobachter, er schaut in Gesichter, quadriert kleine Gesten, die zu großen Ausbrüchen werden, und er weiß um die konservative Gleichschaltung unserer Tage. Mit Charakteren, im Wortsinn, wie Steves können die Wenigsten umgehen. Immer wird eine bestimmte Reaktion erwartet, erfüllt sich nicht die vorgedachte, werden die Menschen schnell nervös. Und Steve kann einen sehr schnell nervös machen.
Daß diese Geschichte, die ihre Faustschlagwirkung von der ersten Minute an entfaltet und schließlich zur großen herzpochenden, lichtstark bebilderten Oper wird, trotzdem keine ohne Zuversicht ist, dafür taugt schon Dianes Haltung, nach welcher große Hoffnungen besser sind als kleine, und daß Steve „Liberté“ nicht einfach so gesagt hat. Das Freiheitliche lebt er zum Schluß noch einmal richtig aus, auch wenn dann die Hoffnung, daß das Bild nicht wieder zusammenfährt, eine sehr vage ist.
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.