Die moderne Zeit bringt es mit sich, daß Menschen sukzessive den Verschwindetrick lernten – mit Erreichen eines bestimmten Alters werden sie für ihre Umwelt häufig schlicht unsichtbar. Im schlimmsten Fall heißt dies: Pflegeheimtür auf, Rentner rein, Pflegeheimtür zu, Rentner löst sich einfach auf. So ähnlich geht’s Matt Morgan, dem Amerikaner in Paris, nach dem Tod seiner Frau. Mit Sohn Miles ist er schon lange verstritten, Tochter Karen kann man sowieso knicken. Wen interessiert es, ob Matt lebt oder stirbt?!
Nun, die junge, unerschütterlich optimistische Lehrerin Pauline. Sie nimmt sich nach einem zufälligen Treffen des alten, erschöpften Mannes an, kitzelt ihn aus der Wohnung, welche gleichzeitig Zufluchtsort und spärlich beleuchtetes Gefängnis ist. Und Mr. Morgan findet eine neue, eine (siehe Titel) letzte Liebe; ganz ohne körperliches Begehr, auf rein geistiger Ebene. Das inszeniert Regisseurin Sandra Nettelbeck still, dezent, vertraut völlig auf ihren Hauptdarsteller Michael Caine. Dieser, endlich mal wieder außerhalb des Batman-Butler-Universums zu erleben, dankt es hauptsächlich durch die Würde eines ganzen Lebens. Caines Spiel geht tief, drückt hier vergessene Knöpfe, bricht dort Verkrustungen auf, reizvoll kontrastiert von Gillian Anderson als jederzeit zum Ausbruch bereiter Vulkan Karen, schockerblondet und zickig in kleiner, aber feiner Rolle. Ein Fest der hohen Darstellungskunst, bei dem allerdings die Handlung zunehmend in Gängigkeiten rutscht.
Immer dann, wenn es um Persönlichkeitsentwicklungen geht, handelt die Autorin Nettelbeck nämlich vorhersehbare Stationen in Standard-Dialogen ab, opfert häufig spürbares französisches Flair einem Mix aus stereotypem deutschen und amerikanischen Drehbuchseitenrascheln. Was stellenweise dazu führt, daß herzerweichende Liebeserklärungen an eine Verstorbene („Sie haben das Haar meiner Frau!“) oder eingestreute Themen ungleich höherer Relevanz im sie umgebenden Auserzählen nahezu untergehen. Jedoch zum Glück bloß fast. Und für alle Fälle gibt es ja noch Michael Caine.
Sein Mr. Morgan wird schließlich auf eine Weise Frieden finden, die gar nicht so realitätsfern ist, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag, auch angesichts der erwähnten Skript-Probleme. Man nimmt dieses Wissen mit nach Hause, läßt es arbeiten – und schärft bestenfalls den eigenen Blick für alte Leute.
Originaltitel: MR. MORGAN’S LAST LOVE
D/Belgien 2013, 116 min
FSK 0
Verleih: Senator
Genre: Drama, Poesie, Literaturverfilmung
Darsteller: Michael Caine, Clémence Poésy, Justin Kirk, Gillian Anderson, Jane Alexander
Stab:
Regie: Sandra Nettelbeck
Drehbuch: Sandra Nettelbeck
Kinostart: 22.08.13
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...