Originaltitel: MUSIC

D/F/Griechenland/Serbien 2022, 109 min
FSK 12
Verleih: Grandfilm

Genre: Drama, Experimentalfilm

Darsteller: Aliocha Schneider, Agathe Bonitzer, Marisha Triantafyllidou

Regie: Angela Schanelec

Kinostart: 04.05.23

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Music

Nebel, der mit Donner weckt

Ödipus muß sich nicht die Augen ausstechen, um sein Publikum neu sehen zu lassen. Seit den 90ern dreht Angela Schanelec Filme, und noch immer gilt es, überhaupt eine Sprache zu finden, um über ihr eigenwilliges Werk adäquat sprechen und schreiben zu können. Die Prämisse, daß sie dieses Mal die Ödipus-Sage adaptiert, ist schon Falle genug, um Erwartungshaltungen und Sehgewohnheiten gehörig umzukrempeln, wie es wohl nur wenigen Kreativen des Gegenwartskinos gelingt.

Gewiß, MUSIC thematisiert den Ödipus und thematisiert ihn nicht. Schanelecs Film beginnt in mythischer Landschaft: Im Gebirge ziehen Schleier auf, Wolkendunst, der sich auf die Netzhaut legt, bis Donner die Ruhe zerreißt. Vom Sagenhaften sind nur noch Splitter, Codes, Störeffekte geblieben, die Schanelec aus einem kulturellen Gedächtnis auferstehen läßt und in der Zeitlosigkeit ihrer Welt verstreut. Klageschreie, Körper schleppen sich durch schroffe Natur, ein Kind wird gefunden. Versehrt sind seine Füße. Später geschieht ein Mord, erblüht eine Liebe: Der inhaftierte Jon und seine Aufseherin Iro nähern sich einander an. Im Gefängnis trägt man noch die Plateauschuhe antiker Spieltradition.

Und unaufhörlich wird gestorben. Schanelecs Szenen kommen mit wenig gesprochenem Dialog aus. Ihre elliptische Anordnung vermengt das Kontemplative und Sensible mit dem Grausamen. In ihnen schlägt die Zeit so kryptische Schneisen, wie es nur im Kino zu einem solch kniffligen Rätsel taugt. Ein Rätsel hatte auch Ödipus in der Sage zu lösen, um die Sphinx vor Theben zu überlisten. Es drehte sich um den Menschen im Laufe der Zeit. In genau diesem Sinne ist MUSIC zutiefst human, wie verdutzt und melancholisch er das Werden und Vergehen beobachtet. Und hochpolitisch, wie er sich einem Kino des Konformismus, der feststehenden Ideen und Verknüpfungen widersetzt.

MUSIC verwandelt den Mythos, dessen Formeln und Deutungsschablonen für die Tragödien der Welt in Fragezeichen. Das Analytische des Ödipus-Dramas wird in Schanelecs Film keine Enthüllungen und Ursprünge finden. Stattdessen: das Potential des körperlichen, lautlichen, medialen Ausdrucks, kulminierend in Gesang, Bewegung, einer Prozession als Satyrspiel. Ein Überlisten des Feststehenden, Intuition, eine filmgewordene Paradoxie. „Warum Augen haben, wenn nicht zum Sehen?“, singt Jon irgendwann und hat die Lider dabei geschlossen.

[ Janick Nolting ]