Man könnte es zynisch nennen, wenn Cornelia zu ihrem Geburtstag ausgerechnet zu Gianna Naninis hinreißender Canzone „Meravigliosa Creatura“ tanzt, wenn die italienische Kratzbürste anhebt, um das wunderbare Geschöpf anzusingen, das allein auf der Welt ist, an dem sie hängt, das sie schützt, für welches sie sterben möchte.
Doch Zynismus wäre ja schon mal ein Gefühl, und Gefühle, also echte, unverstellte, vom puren Will-ich-haben befreite Gefühle, kennt die erfolgreiche Wohlstandsdame nicht. Besitzen will Cornelia die für sie zentrale Figur am liebsten komplett: ihren Sohn. Der aber ignoriert und beleidigt seine Mutter, er hält sich fern, hofft auf den Moment, daß deren Generation ganz verschwindet. Nein, auch Barbus Charakter ist alles andere als identitätsstiftend. Genau das aber ist der Trick des Films: Wir werden zwei Menschen vorgestellt, die einander verdienen. Die eine steht für die Arroganz des reichen Mittelstands, der auch im zerbrochenen Osten Europas sich erbärmlich hinter Vitamin B, SUVs, großen Scheinen und dicken Pelzen verschanzt, der andere für dessen Brut, der Verantwortung, Wertschätzung und Anstand gehörig abgehen.
Durch eine Tragödie werden aus den beiden zwei, die einander brauchen. Der Mutter könnte der Sohn abhanden kommen, dem Jungen die Freiheit. Er hat ein Kind totgefahren, eine Verkettung blöder Ereignisse, zu schnell war Barbu in jedem Fall. Jetzt klingeln die Telefone, man kennt doch jenen Kommissar, diesen Arzt und solchen Gutachter. Einander aber kennen Mutter und Sohn kaum. Und hier schwingt sich der wirklich grandiose, diesjährige Berlinale-Gewinner, das Porträt eines völlig entfesselten Geldgesindes, zu purer Fulminanz auf, wenn er überbordende Mutterliebe, die im Prinzip aber nicht mehr als ein recht widersinniger Mix aus Ich-Bezogenheit und verschleiertem Selbsthaß ist, auf selbstgefällige Agonie treffen läßt. Es wirkt wie Kabarett, wenn die Mutter der Polizei und dem Arzt die Akten zitiert, eine Wohlstandsglucke, die nur Unterscheidungen zwischen nett und unkooperativ kennt, es wäre fast komisch, wenn es eben nicht um das Leben des 14jährigen Mihai ginge. Die Mutter zieht die Fäden, der Sohn dazu eine derart passiv-verbrämte Fresse, daß man aufspringen und ihm eine schießen möchte.
Und während Cornelia ackert, anruft, kämpft, pressiert, korrumpiert, droht, dann denkt man an vieles, aber eben nicht an eins: Mutterliebe. Nur kurz vor Schluß, in der beklemmendsten Szene des Films, wenn Cornelia die Eltern des toten Jungen aufsucht, dann bangt man: Bricht jetzt das Eis, folgt sie doch einer nachfühlbaren condition humaine oder eben doch ihrem eigenen Gott? So benennt sie es, so praktiziert sie es beim Zücken der Scheine, so verdammt sie den Betrachter zur Fremdscham. Regisseur Calin Peter Netzer ist klug genug, es sich und dem Publikum nicht zu leicht zu machen. So läßt er zumindest eine vage Hoffnung zum Schluß züngeln. Hoffen muß man auch, denn voraussetzen läßt sich bei einer Gesellschaft, die selten dazulernt, ohnehin nichts. Die Gewißheit um ein Gewissen der Menschen ist ja doch schon viel früher zu Markte getragen worden, weitaus zeitiger noch als der Moment, in dem Mihai vielleicht unvorsichtig war, Barbu aber sowieso zu schnell fuhr.
Originaltitel: POZITIA COPILULUI
Rumänien 2013, 112 min
FSK 12
Verleih: X Verleih
Genre: Drama
Darsteller: Luminita Gheorghiu, Bogdan Dumitrache
Regie: Calin Peter Netzer
Kinostart: 23.05.13
[ Michael Eckhardt ] Michael mag Filme, denen man das schlagende Herz seiner Macher auch ansieht. Daher sind unter den Filmemachern seine Favoriten Pedro Almodóvar, Xavier Dolan, François Ozon, Patrice Leconte, Luis Buñuel, John Waters, François Truffaut, Pier Paolo Pasolini, Ingmar Bergman. Er mag aber auch Woody Allen, Michael Haneke, Hans Christian Schmid, Larry Clark, Gus Van Sant, Andreas Dresen, Tim Burton und Claude Chabrol ...
Bei den Darstellern stehen ganz weit oben in Michaels Gunst: Romy Schneider, Julianne Moore, Penélope Cruz, Gerard Depardieu, Kate Winslet, Jean Gabin, Valeria Bruni-Tedeschi, Vincent Cassel, Margherita Buy, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert ...
Eine große Leidenschaft hat Michael außerdem und ganz allgemein für den französischen Film.