1 Bewertung

Nichts ist besser als gar nichts

Leben unter dem Effizienz-Diktat

Not macht erfinderisch, heißt es. Und: Man muß sich nur zu helfen wissen. Filmemacher Jan Peters macht die Probe aufs Exempel. Er begibt sich in den Großstadtdschungel, im Schatten der Banken, da wo das Prekariat zu Hause ist, und versucht, sich täglich durchzuschlagen, mit nicht mehr als einer Gruppenfahrkarte der Frankfurter Verkehrsbetriebe in der Tasche. Als humanoide Verlängerung des Fahrkartenautomaten spricht er Kunden an und begleitet sie für einen Obolus zu ihrem Zielort. Dieses Geschäftsmodell hatte er bereits in seinem Kurzfilm WIE ICH EIN FREIER REISEBEGLEITER WURDE erfolgreich erprobt. Erfolgreich im filmischen, nicht im finanziellen Sinne, wie sich auch diesmal wieder herausstellt. Denn was lohnt sich heute schon noch?

Eine der wesentlichen Fragen, die er seinen Fahrgästen stellt. Unterwegs kommt man schnell ins Gespräch und stellt fest: Hinter jedem Fahrgast steckt ein ähnlich prekäres Geschäftsmodell. Ein Graphiker, der auf Bienenzucht umsattelt und 1-Euro-Jobbern alles über die verkannten Nutztiere beibringt. Ein Philosoph, der sich als Unternehmensberater verdingt, aber eigentlich Lehrer ist. Eine Tagesmutter, die für das Grundeinkommen kämpft. Ein bärtiger Obdachlosenzeitungsverkäufer, der alle seine Einnahmen spendet und eigentlich eine private Sozialstation im Bahnhof betreibt.

Jan Peters, dessen Film bei DOK Leipzig im nationalen Wettbewerb seine Weltpremiere hatte, wurde schon gelegentlich als deutscher Michael Moore bezeichnet. In der Tat macht er sich ebenfalls selber zum Protagonisten und setzt alle gewonnenen Anregungen sogleich auf humorvolle Weise in Aktionen um, sprich: Er optimiert sein Einmann-Unternehmen. Allerdings ist er kein Zyniker, der mit wütender Geste am Zaun rüttelt. Seine Spezialität ist das Selbstexperiment. Das erlaubt es ihm, immer tiefer in den Irrsinn einzudringen, der unsere Gesellschaft strukturiert. Wenn der Hartz-IV-Empfänger dazu gebracht wird, seinen 20-seitigen Business-Plan auszuarbeiten, durch den er selber nicht durchblickt (Hauptsache, es sieht gut aus, und es kommen ein paar englische Begriffe vor), dann ist irgendwas faul im Staate Deutschland.

Das positive und durchaus ermutigende Ergebnis dieser Recherche: Deutschland ist auch voller liebenswerter, ideenreicher und gar nicht fauler Leute, nur daß es für sie keine Anerkennung gibt. Und ja, Not macht erfinderisch.

D 2010, 89 min
Verleih: Filmtank

Genre: Dokumentation

Regie: Jan Peters

Kinostart: 02.12.10

[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...