Höchste Zeit für den Winterfilm des Jahres. Norwegen hilf! Vorletztes Jahr war es O’HORTEN über den kauzigen, pensionierten Eisenbahnangestellten, der auf der Suche nach einem neuen Lebensziel durch ein vereistes Oslo stolperte. Es herrschte scheinbar unendliche Nacht. In NORD ist wieder einer unterwegs, doch diesmal herrscht unendliches Weiß. Denn es geht mit dem Schneemobil in Richtung Polarkreis.
Da oben hat Jomar ein vierjähriges Kind. Depression, Angstzustände und Alkohol haben es ihm genommen. Jetzt will er es gutmachen. Zwar glaubt er selbst noch nicht so richtig daran, doch untrügliche Zeichen wie das Abbrennen der Skihütte, in der er eher lustlos als Liftwärter arbeitet, und hin und wieder ein Schluck Schnaps aus dem Kanister machen ihm Mut, die Reise doch ganz schnell anzutreten, bevor das Gehirn hinterherkommt. Schließlich ist die Reise schon das Ziel.
Der Film nennt sich im Untertitel ein „Off-Road“-Movie, und in der Tat, die ausgetretenen Pfade werden verlassen. Es geht querfeldein, zuweilen angefeuert durch Country-Musik, mitten hinein ins wunderbare Bergpanorama des Nordens. Keine Studiokulisse, sondern alles echt, einschließlich der Schneestürme, die Dokumentarfilmer Rune Denstad Langlo bei diesem, seinem ersten, Spielfilm nicht nur meisterte, sondern mit Improvisationsgeschick in die Geschichte integrierte. Für die benötigten Motorschlitten- und Skistunts holte er sich ein paar sportliche Freunde an den Naturset. Auch Familienmitglieder und seine ehemalige Theaterlehrerin spielten mit. So liebevoll und skurril die Umstände, so auch der Film.
Die Menschen, denen Jomar am Wegesrand begegnet, sind, was sollte man in dieser Einsamkeit auch anderes erwarten, allesamt Einzelgänger, die mit ihren verstecken Sehnsüchten kämpfen. Wie die adoleszente Lotte, die allein mit ihrer Großmutter wohnt und Jomar, als er schneeblind ist, in einer abgedunkelten Kammer mit Begeisterung pflegt und zur Strafe für seine Ignoranz und Undankbarkeit auch quält. Aber Schnaps und Zigaretten bringen das Eis zwischen den beiden doch noch zum Schmelzen. Oder der junge Schwulenhasser, der sich eigentlich Jomars Motor anschauen will und ihn stattdessen mit seltsamen Männerritualen traktiert. Und warum trägt der alte Same, der sein Zelt in einem einsamen Tal aufgeschlagen hat und Jomar feierlich eine Paybackkarte vermacht, eine Kette ums Fußgelenk?
Seltsames gibt es genug im Norden, aber immer ist es auch eine zutiefst menschliche Begegnung, die Jomar einen Schritt näher an den Punkt der Entscheidung bringt. Manchmal braucht man eben einfach ein Gegenüber. Der Film bringt die Sache ohne unnötigen Zierrat auf den Punkt, mit viel Sinn für die zuweilen absurde Kargheit des Daseins und für eine Komik der Schnittabfolge. Am Anfang steht Jomar unschlüssig mit einem Stecker in der Hand und starrt in die Landschaft. Der Skilift, den er betreut, steht derweil still. Der Stecker muß wieder hinein. Darum geht es.
Fazit: Ein Winterfilm zwar und doch herzerwärmend wie ein prasselnder Ofen. Die Leipziger würdigten das auf der letzten Filmkunstmesse bereits mit der Vergabe des Publikumspreises.
Originaltitel: NORD
Norwegen 2008, 78 min
FSK 12
Verleih: Alamode
Genre: Tragikomödie, Poesie
Darsteller: Anders Baasmo Christiansen
Regie: Rune Denstad Langlo
Kinostart: 07.01.10
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...