Godard im Kino? Da schau her. Klar, der eine oder andere Nouvelle-Vague-Klassiker flimmert nachts schon mal über die Leinwand. Aber ein aktueller Film, das ist eine Rarität. Natürlich hat Godard selbst sich schon frühzeitig vom kommerziellen Kino entfernt. Und doch ist er bis heute sozusagen ein Regisseur der alten Schule: mit einem humanistischen Blick und dem festen Grundsatz, daß der Film im Kopf entsteht anläßlich seiner Betrachtung. Das heißt genau genommen, den Zuschauer ernst zu nehmen.
Am Anfang waren Kanonenschüsse. Eine schnelle, fast MTV-artige Collage aus Schlachtenszenen zu immer wieder neu einsetzender Klaviermusik bildet den ersten der drei Teile: Die Hölle. Kinobilder und Kriegsdokumente sind nicht voneinander zu trennen. NOTRE MUSIQUE führt an den (zeitlosen) Puls der Zeit, da wo die Menschen sich schon immer massakriert haben, und wo es doch auch Chancen gibt, sich (der Kulturgeschichte) zu erinnern und sich zu versöhnen. Wie in Sarajevo, wo wir nun auf Dantes Spuren mit der Straßenbahn einfahren.
Zweiter und längster Teil: Fegefeuer. Rund um die ausgebrannte Bibliothek führt Godard reale und fiktive Besucher einer Buchmesse zusammen und mit ihnen die verschiedenen Konflikte dieser Welt. Real wie etwa der palästinensische Schriftsteller Mahmoud Darwish, fiktiv wie die israelische Journalistin, die ihn interviewt. Real und fiktiv, wie die Delegation von Indianern, die sich später in Tracht vor der Brücke von Mostar fotografieren läßt. In den Zusammentreffen werden notierfähige Sätze gewechselt, und diese Sätze sind natürlich keine Erklärung, sondern Sätze: Zitate, Geistesblitze. Das Medium als Teil der Aussage. Diesen Aspekt verkörpert Godard diesmal konsequenter Weise selbst. In einem vermutlich gefakten Workshop über "Das Bild und der Text" inszeniert er sich mit großherziger Selbstironie als Lehrmeister. Nicht als einer, der die Antworten kennt, sondern als einer, der ein paar Fragen weiß. Stumm und halb verschattet blickt er deshalb nur ins Bild, als man ihn fragt, ob die digitale Kamera das Kino retten wird.
Und die Menschheit, Monsieur Godard, ist die zu retten? Aufs Paradies sollte man seine Hoffnungen besser nicht stützen, denn das wird von US-Marines bewacht. Wer es aber genau wissen will, mache sich selbst ein Bild.
Originaltitel: NOTRE MUSIQUE
F/CH 2004, 79 min
Verleih: Else-Filmverleih
Genre: Experimentalfilm, Drama
Darsteller: Sarah Adler, Nade Dieu, Rony Kramer
Regie: Jean-Luc Godard
Kinostart: 15.06.06
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...