Originaltitel: TODOS LO SABEN
F/Spanien/I 2018, 133 min
FSK 12
Verleih: Prokino
Genre: Drama, Thriller
Darsteller: Penélope Cruz, Javier Bardem, Ricardo Darín, Bárbara Lennie
Regie: Asghar Farhadi
Kinostart: 27.09.18
Asghar Farhadis Filme stellen Fallen. Wenn man beginnt, sie nachzuerzählen, zusammenzufassen, auf einen Punkt zu bringen, werden sie auf seltsame Weise kleiner und wollen zu dem Großen, das einem im Kino zugestoßen ist, nicht mehr passen. Natürlich darf, wer mag, Farhadis Berlinale- und OSCAR-Gewinner NADER UND SIMIN – EINE TRENNUNG als Scheidungs- und Familiendrama vor dem Hintergrund der Geschlechter- und Machtstrukturen der iranischen Gesellschaft beschreiben. Natürlich muß im Vokabular, mit dem man sich an LE PASSÉ heranpirscht, der Hinweis auf den deterministischen Zusammenhang von Gestern, Heute und Morgen vorkommen. Und irgendwie behält recht, wer OFFENES GEHEIMNIS als Entführungs- und Psychothriller im ländlichen Spanien bezeichnet. Doch immer bleibt ein flirrender Rest, der sich nur im Moment des Zuschauens einlöst.
So läßt sich lange und umständlich erläutern, daß Laura, die vor Jahren mit ihrem Mann nach Argentinien ausgewandert ist, anreist, um mit der Familie die Hochzeit ihrer Schwester zu feiern. Die zwei Kinder hat sie mitgebracht – eine hübsche Heranwachsende und einen quirligen Jungen. Der Familienvater konnte es nicht einrichten, wohl aus beruflichen Gründen. Vom Flugzeug geht es ins Auto, mit dem Auto geht es aufs spanische Land. Im Vorbeifahren ein paar schnelle Blicke auf die vertrauten Gassen und Häuser geworfen, diesem und jenem zugewunken, beherzt in die offenen Arme der Verwandten und Freunde gesprungen, die alte Liebe Paco begrüßt, mit ein paar zügigen Schritten hinein ins Elternhaus, die Treppen hinauf – als könne man sich Heimat erlaufen.
Ist das erzählenswert? Machen diese Details mehr, als nur Figuren an die für sie vorgesehenen Orte zu befördern oder mit ein paar impressionistischen Strichen Land und Leute zu skizzieren? Ja. Sie etablieren jene Beiläufigkeit und familiäre Jovialität, jenen muttererdigen Boden, den Farhadi braucht, um ihn der noch ahnungslosen Festgemeinschaft langsam unter den Füßen wegzuziehen. Und sie verbreiten eine fahrige Geschäftigkeit, die Vorwärtsbewegung antäuscht – obwohl es um das geht, was Laura und Paco hinter sich gelassen haben. Richtig, Paco. Den hätte man in dem ganzen Anreisegewusel fast übersehen. So wie Laura übersieht, daß der freundschaftliche Ton, den ihre Eltern früher mit Paco pflegten, ein anderer geworden ist. So wie ihr entgeht, daß die Geldsorgen der Familie drängend sind. So wie die Hochzeitsgesellschaft viel zu spät bemerkt, daß jemand fehlt. Lauras Tochter, bis eben noch undefinierte Randgestalt, ist weg. Die Entführer melden sich per SMS.
Nun setzt ein, was man Thriller nennen würde: die fieberhafte Suche nach dem Mädchen, das Rätseln über die Täter, über deren wirkliche Interessen und darüber, wie und wo das geforderte Lösegeld aufzutreiben sei. Das Hochzeitsvideo wird nach verdächtigen Fremden und verräterischen Gesten durchforstet. Aus Argentinien eilt Lauras Mann herbei, der längst nicht so wohlhabend ist, wie man in Spanien dachte. Paco will einspringen und bereitet den Verkauf seines Weingutes vor, um Lauras Kleine endlich freikaufen zu können. Damit hat Asghar Farhadi alles und alle beisammen, um … von etwas anderem zu erzählen: vom Mißtrauen, mit dem sich Verwandte und Freunde gegenüberstehen, und davon, daß es in der Vergangenheit gepflanzt und über Jahre gehegt wurde.
Noch einmal zurück zum Beiläufigen, mit dem dieser Filmemacher arbeitet, und zum Übersehen, das er einkalkuliert: bei seinen Figuren, bei seinen Zuschauern. Dieser dramaturgischen Strategie ordnen sich die Bilder unter, obwohl Kameramann José Luis Alcaine, etwa von Pedro Almodóvar, vielleicht glamourösere Bühnen für seine Kunst gewöhnt ist. Auch Penélope Cruz und Javier Bardem fügen sich dem Ziel, eine eingespielte Normalität in Auflösung zu zeigen.
Was Farhadis Film tatsächlich vorantreibt, sind die Auslassungen und Leerstellen, durch die sich Vertraute hier neu, vielleicht zum allerersten Mal mit wirklich wachen Augen betrachten. Was sie dann mit ihrem Wissen tun? Man wird sehen.
[ Sylvia Görke ]