Ein junger Mann öffnet die Vorhänge und blickt auf eine morgendliche Stadt. Hinter ihm im Bett eine schöne junge Frau. Man glaubt, dieses Bild zu kennen, das Leben scheint sich vor und hinter ihm aufzutun. Doch lädt sich dieses Bild schnell ganz anders auf, je mehr wir über diesen jungen Mann erfahren, der Anders heißt. Denn in Anders’ Leben gab es einen tiefen Einschnitt, eine Kluft, die die Sucht gerissen und die ihn Jahre seines Lebens gekostet hat.
Bei seinem ersten Tag Freigang aus der Klinik sucht er nach Halt in einer Welt, die ohne ihn weitergemacht hat. Er trifft einen alten Freund, der mittlerweile Familienvater ist, versucht, seine Ex-Freundin zu erreichen, seine große Liebe, die aber nicht auf seine Anrufe reagiert. Anders hat ein äußerliches Ziel, er muß zu einem Vorstellungsgespräch bei einem Lifestyle-Magazin – der eigentliche Grund für seinen Tag Freigang. Doch sein innerliches Ziel hat er verloren, egal, mit wem er sich trifft, und wo er hinkommt, den gesuchten Halt im alten neuen Leben findet er nicht.
Die Kamera begleitet Anders während seiner 24 Stunden Freigang, von Anfang an werden bei seinen Begegnungen im intimen Raum die großes Themen des Lebens verhandelt – mit einer Natürlichkeit, die in Filmdialogen ihresgleichen sucht. Denn Anders ist beharrlich in seiner Frage nach dem „Warum“: Warum weitermachen? Warum das alles? Indem er diese Frage allein durch seine bloße Rückkehr in die Welt der vermeintlich Gefestigten trägt, verunsichert er nicht nur seine Freunde, Bekannte und Familie, sondern auch uns.
Dieser Film meistert eine schwierige Gratwanderung. Das sieht mitunter leicht aus, weil Regisseur Joachim Trier und sein Autor Eskil Vogt uns erzählerisch so sicher führen. Doch die Meisterleistung liegt darin, ihre Figur nie zum Opfer zu stilisieren oder verkommen zu lassen, und ihr stattdessen eine Bestimmtheit in ihrer Hoffnungslosigkeit mitzugeben, die diesen Verlorenen zu einem bewundernswert starken Charakter macht. Anders geht seinen Weg konsequent zu Ende. Daß es der Film schafft, bei seiner Figur zu bleiben, ihre Verzweiflung an der Welt stets spürbar zu machen und zugleich die Frage nach dem „Warum“ auf ganz eigene, unsentimentale Weise doch positiv zu beantworten, ist ihm besonders hoch anzurechnen. Ein Meisterwerk, nichts weniger.
Originaltitel: OSLO, 31. AUGUST
Norwegen 2011, 96 min
FSK 12
Verleih: Peripher
Genre: Drama
Darsteller: Anders Danielsen Lie, Hans Olav Brenner, Ingrid Olava
Regie: Joachim Trier
Kinostart: 04.04.13
[ Paul Salisbury ] Paul mag vor allem Filme, die von einem Genre ausgehen und bei etwas Neuem ankommen. Dabei steht er vor allem auf Gangsterfilme, Western, Satire und Thriller, gern aus der Hand von Billy Wilder, Sam Peckinpah, Steven Soderbergh, Jim Jarmusch, den Coen-Brüdern oder Paul Thomas Anderson. Zu Pauls All-Time-Favs gehören DIE GLORREICHEN SIEBEN, TAXI DRIVER, ASPHALT COWBOY, SUNSET BOULEVARD, POINT BLANK ...