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Parallax Sounds

Großer (Postrock-)Bahnhof

Die ideale Vorstellung wäre ja, im Kinosaal mit dieser grandiosen Musikdokumentation vorn auf der Leinwand würden sich Anhänger aus beiden „Lagern“ treffen, sich danach bei einem Kaltgetränk austauschen und für den Besuch im nächstgelegenen Live-Club verabreden. Die Welt wäre in Ordnung. So, wie sie es in den 90ern für viele zeitgenössische Künstler in Chicago war. Musiker wollten Rock und Jazz eine nächste Pforte öffnen, nicht in Kategorien und Vorurteilen denken, waren überzeugt davon, alles sei möglich, wenn nur die Haltung stimmt. „Und wenn es eine gute Idee ist“, reflektiert Ken Vandermark im Film, „dann klauen wir sie eben.“

PARALLAX SOUNDS kann als Titel treffender nicht sein, um das zu beschreiben, was in Chicago abgegangen ist und abgeht: eigene Positionen verändern, um den „Gegenstand“ an eine neue Stelle zu rücken. Anders als Metropolen wie New York, Los Angeles oder Seattle entwickelte sich Chicago als einstige Brutstätte des fiebrigen Rhythm ’n’ Blues 40 Jahre später zur Proto-City des offenen Visiers. David Grubbs, einer der Wichtigen des Aufbruchs, fand den Begriff Postrock schlüssig, als Musiker aber hätte er ihn nie verwendet. Steve Albini, kultig verehrter Produzent, wußte zeitig, daß es etwas Neues geben würde für die, denen „Van Halen schon mit 12 zum Halse raushing.“ Es galt, den Status quo herauszufordern, sich nicht abzufinden mit dem kommerziellen Würgegriff. Just von Chicago aus kam eine Böe der Stärke 8 auf der nach oben offenen Geschmacksskala, brachte ausreichend Keime auch nach Europa, wo sich Postrock als Marke im Rezipieren wie Praktizieren etablierte. Tortoise, Eleventh Dream Day, Gastr del Sol, The Jesus Lizards – die Liste mit Infektionsherden ist lang.

Also ist PARALLAX SOUNDS eine reine Musik-Doku? Mitnichten. Augusto Contento gelingt ein Meisterstück vieler Ebenen zwischen Meditation und Dokument. Ohne im Schnitt zu überhitzen, erschafft der Regisseur ein komplexes, vibrierendes, spektralfarbiges Bild von Chicago, bettet darin die Begegnungen mit den Künstlern „nur“ ein. Ken Vandermark und David Grubbs liefern dazu einen grandiosen Originalsoundtrack. Auch als Film wird der Titel also ernst genommen: Stadtbilder, Archivaufnahmen, Menschen. Schlachthöfe, Gießereien, Strände. Cafés, Konzerthallen, Brücken. Und immer wieder Züge. Die Hochbahn als Steadycam. Wirklich großer (Postrock-)Bahnhof.

Originaltitel: PARALLAX SOUNDS

USA 2013, 96 min
FSK 0
Verleih: Real Fiction

Genre: Dokumentation, Musik

Regie: Augusto Contento

Kinostart: 06.03.14

[ Andreas Körner ]