Zugenähter Mund, ein in Stacheldraht gewickelter nackter Körper, abgeschnittenes Ohrläppchen: Was nach einem Griff in die Horrorfilmrequisitenkiste klingt, ist für Pjotr Pawlenski Ausdrucksmittel. Der Aktionskünstler demonstriert so gegen das russische System, David Pawlenski legt sich mit Goliath Putin und dessen Apparat an.
Körperliche Selbstzerstörung als Waffe. Globale Berichterstattung garantiert. Und in unseren Zeiten, deren Lieblingsvokabel „Dystopie“ heißt, welche einen idiotische Brechdurchfälle zwitschernden No-Go-Anti-Präsidenten mit Trophy Wife ins Amt hievten und die EU mindestens aufweichten, vermutlich probates, vielleicht letztes Mittel. Was vorliegende Doku bejaht: Durch als Schattenspiel nachgestellte, Gespür für visuelle Qualität beweisende Gerichtsverhandlungen. Oder warme Worte einer Bewunderin; diese benutzt ihr Blut, um weitere Aufmerksamkeit für Pawlenskis Arbeit zu generieren. Auch die wiederkehrend bebilderten Beschränkungen – oder besser das völlige Negieren – der Pressefreiheit machen totalitäre Züge deutlich. Ein Mann und seine Aktionen wider die Obrigkeit, quasi eine Beobachtung dieser Einzelschlacht, skurrile Momente inkludiert. Etwa dann, wenn die zur Verhaftung angetretenen Behörden nicht wissen, wie Pawlenskis auf dem Roten Platz festgenagelter Hoden schonend gelöst werden soll. Dazu bemühen sich dissonante Klangattacken um Erzeugen und Aufrechterhalten einer unbequemen Atmosphäre, wollen den Zuschauer aus seiner Komfortzone als Betrachter reißen, ihn wohl zumindest etwas teilhaben lassen am Gefühl ständigen Drucks, permanenter Anspannung.
Über den Menschen Pawlenski erfährt man währenddessen hingegen wenig bis nichts. Umso bedauerlicher, da seine Partnerin scheinbar ebenfalls dem Extremen frönt, über Verstümmelung zu Zwecken bestraften Vertrauensbruchs plaudert, unbefriedigtes Interesse an einer nicht gängigen Beziehung weckt. Ein erhellender Blick hinter geistige Kulissen wurde verschenkt, Pawlenskis persönliche Komplexität bleibt unerforscht, politischer Einsatz alleiniges Thema. Nur gerät die Huldigung unter Abrieb jeglicher definitiv vorhandener Hinterfragungsfläche (Stichworte Human Rights Foundation und Václav Havel Prize) irgendwann repetitiv. Weswegen – bei allem Respekt – Pawlenskis offensichtlich kokettierende Selbstbeurteilung, alle um sich herum zu ermüden, real tatsächlich nicht vollständig von der Hand zu weisen ist.
D 2016, 100 min
FSK 16
Verleih: Lichtfilm
Genre: Dokumentation, Polit
Regie: Irene Langemann
Kinostart: 16.03.17
[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...