Es ist nicht der beste Ort zum Leben. Wie Waben eines Bienenstocks stapeln sich die Wohnungen zu riesigen Häuserblöcken übereinander. Der französische Architekt Le Corbusier hatte mit seiner „utopischen Stadt“ eine bessere Zukunft erbauen wollen, übrig geblieben sind die Armenviertel von Caracas: senkrechte Betonklötze, verwahrlost, an jeder Ecke lauern Gefahren.
Wer hier zu Hause ist, hat den Sprung in die bessere Gesellschaft verpaßt, so wie der 9jährige Junior. Oft steht er mit einer Freundin am Fenster und schaut auf die gigantischen Häuserfronten. Hinter den vergitterten Balkonen entdecken sie die Vielfalt menschlichen Daseins: Hochzeitspaare, ein Schwarzafrikaner, ein Mann mit Schußwaffe. Einmal sagt die Freundin, sie hätte Angst, vergewaltigt zu werden, da entgegnet der Junge, daß ihre Angst unberechtigt sei, weil sie dafür zu dick sei.
Das ist kindliche Logik inmitten sozialer Isolation. Die preisgekrönte Regisseurin Mariana Rondón erzählt in ihrem Film PELO MALO eindrucksvoll vom Überleben in der Hauptstadt Venezuelas, an einem der gefährlichsten Plätze der Welt. Juniors Mutter hält sich mit Putzjobs über Wasser, um die beiden Kinder durchzukriegen. Für Liebkosungen bleibt da wenig Zeit. Vor allem auch, weil Junior so gar nicht den Konventionen der sozialen Regeln entspricht: Anstatt sich für Waffen und Schlägereien zu interessieren, will er seine lockigen Haare zähmen und singen, so wie die Stars im Fernsehen.
Um Juniors Vorlieben zu bekämpfen, straft ihn die alleinerziehende Mutter mit dem schlimmsten aller Mittel: Liebesentzug. Je mehr der Junge versucht, seiner Mutter Zuneigung abzuringen, um so stärker stößt sie ihn von sich weg. Es ist schmerzhaft, mit anzusehen, wie sie immer weiter verhärtet und so dem Kind den Boden unter den Füßen wegzieht.
PELO MALO ist ein leiser Film mit sehr überzeugenden Darstellern, dessen Wucht sich zwischen den Bildern versteckt. Gewaltszenen gibt es nicht. Vielmehr zeigt die Regisseurin den tristen Alltag eines Kindes, das auf der Suche nach der eigenen Identität ist und nach der Liebe seiner Mutter. Und gerade durch das radikale Ende wird deutlich, daß fehlende Geborgenheit den Nährboden für jene Gewalt und Perspektivlosigkeit bildet, die soziale Brennpunkte erst entstehen lassen. Deshalb spiegelt PELO MALO nicht nur das persönliche Drama eines Jungen, der seiner Freiheit beraubt wird, sondern auch die Gesellschaft, die es nicht schafft, den Menschen den Raum zu geben, den sie für ihre Entwicklung brauchen.
Originaltitel: PELO MALO
Venezuela/Argentinien/Peru/D 2013, 93 min
FSK 12
Verleih: ImFilm
Genre: Drama, Erwachsenwerden
Darsteller: Samuel Lange, Samantha Castillo
Regie: Mariana Rondón
Kinostart: 05.05.16
[ Claudia Euen ]