Sie sind bereit, im Kino zu weinen? Sie haben keine Hemmungen, in ihrem Sitz einfach loszuprusten? Und sie wollen, wenn Sie anschließend in Ihre eigene Welt zurückkehren, trotzdem das Gefühl haben, sagen wir lieber nicht: etwas gelernt zu haben (das klingt doch allzu pädagogisch), aber: bereichert worden zu sein? Dann herzlich willkommen bei PERSEPOLIS.
In der Tat läßt sich hier etwas fürs Leben lernen. Das gibt das Thema vor. Eine junge Frau im Exil erinnert sich am Pariser Flughafen an ihre Kindheit und Jugend im Iran und an alles, was sie in dieser Zeit über ihre Vorfahren erfahren hat. Ein durchaus informativer und lobenswerter Schnelldurchlauf durch 100 Jahre Geschichte. Doch wohlgemerkt: ein animierter und raffinierter Schnelldurchlauf mit einem sehr persönlichen Thema und der ansteckenden, kindlichen Phantasie einer kleinen rebellischen Heldin namens Marjane. Durch sie lernt man weit mehr, als daß die iranischen Frauen selbstverständlich nicht mit Kopftüchern auf die Welt kommen und die Revolution ihre eigenen Kinder frißt. Sondern man erfährt auch, wie es ist, die stolze Enkelin eines kommunistischen Prinzen zu sein. Was Gott Karl Marx zu sagen hat: nämlich nicht viel. Oder daß ein ordentlicher Liebeskummer in Ausnahmefällen heftiger anschlägt als ein furchtbarer Krieg. Daß der gemeine Österreicher (je nach Perspektive) weit exotischer dasteht als der gemeine Perser. Oder wie Marjanes stets nach Jasmin duftende Großmutter ihre Brüste immer so schön in Form hält - sie legt sie einfach jeden Tag für zehn Minuten in eine Schale mit eisgekühltem Wasser.
All das ist herzzerreißend melancholisch und zugleich von einem sprühenden Witz, der sich kampfbereit gegen die Verzweiflung eines Lebens in Unfreiheit stellt. Marjane Satrapi berichtet und phantasiert aus Erfahrung. Sie selbst hat ihre Familie und ihre, das spürt man deutlich, geliebte Heimat zurückgelassen. Nun ist sie Ko-Regisseurin bei der Verfilmung ihrer eigenen autobiographischen Comics, die in Frankreich äußerst erfolgreich waren.
Man solle nicht denken, daß das leichter sei, als einen Roman zu verfilmen. Doch glücklicherweise ist es Satrapi und Vincent Paronnaud überzeugend gelungen, sich von der Buchvorlage frei zu machen, um für die Leinwand eine angemessene und ganz eigene Version der Geschichte zu kreieren, die es trotz weitgehenden Verzichts auf Farbe zu einer optischen Opulenz bringt. Der holzschnittartige Stil des Comics hat eine deutliche Verfeinerung erfahren, das Schwarz-Weiß changiert je nach Stimmung kunstvoll zwischen allen Farben des Schwarz-Weiß-Regenbogens und Schattenspiel. Und wo im Komik zwei schlichte Bilder eine ganze Episode erzählen, findet der Film dafür auf märchenhaft verschlungenen Wegen - gespickt mit den passenden Märchenmotiven, wie sie aus der kindlichen Vorstellungswelt entspringen - und dank eines Soundtracks, der endlich einmal genau paßt, zu einer durch und durch unangestrengten, mitreißenden Dynamik.
Und so lernt man bei aller politischen Aktualität des Themas zuallererst, wie erfrischend Kino sein kann. Klar, das wußte man schon mal, aber von Zeit zu Zeit scheint es nötig, daran erinnert zu werden.
Originaltitel: PERSEPOLIS
F 2007, 96 min
FSK 12
Verleih: Prokino
Genre: Animation, Zeichentrick
Stab:
Regie: Marjane Satrapi, Vincent Paronnaud
Stimmen: Jasmin Tabatabai, Nadja Tiller, Hanns Zischler
Kinostart: 29.11.07
[ Lars Meyer ] Im Zweifelsfall mag Lars lieber alte Filme. Seine persönlichen Klassiker: Filme von Jean-Luc Godard, Francois Truffaut, Woody Allen, Billy Wilder, Buster Keaton, Sergio Leone und diverse Western. Und zu den „Neuen“ gehören Filme von Kim Ki-Duk, Paul Thomas Anderson, Laurent Cantet, Ulrich Seidl, überhaupt Österreichisches und Skandinavisches, außerdem Dokfilme, die mit Bildern arbeiten statt mit Kommentaren. Filme zwischen den Genres. Und ganz viel mehr ...