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Phoenix

Vielteiliges Puzzle rund um Bewältigung und die Frage: Ich bin (nicht) ich, doch wer bist Du?

Mythologischen Abhandlungen folgend verbrennt sich ein Phönix selbst, wenn er das Ende nahen fühlt, und ersteht dann aus der eigenen Asche auf, wobei jeder dieser Zyklen der Dauer von 972 menschlichen Existenzen entspricht.

Eine davon könnte Nellys sein – eigentlich noch jung, seelisch indes radikal gealtert und metaphorisch gesprochen desgleichen in Brand stehend. Sie hat den Holocaust überlebt, obwohl ihr die Aufseher Auschwitz’ ins Gesicht schossen, kurz vor Kriegsende. Lene, eine Mitarbeiterin der Jewish Agency, bringt die physisch und psychisch Zerstörte nach Berlin, zur Operation und Rekonstruktion. Dort lehnt Nelly ärztlichen Rat ab, möchte nicht aussehen wie Zarah Leander oder allgemein jemand anderes, will keinen „Neuanfang“, sondern wieder sie sein, auch optisch. Und beginnt sofort nach der Genesung die Suche nach Johnny, ihrer großen Liebe, dem Ehemann, welcher sie, die Jüdin, letztlich ohne Erfolg versteckte.

Erneut arbeitet hier das bewährte Duo Nina Hoss/Christian Petzold zusammen, um seelische Abgründe auszuloten, Emotionen auf den Prüfstand zu stellen, abermals vor geschichtlichem Hintergrund. Die weitaus düsterere Marschrichtung macht allein das Thema klar, bezwingend komponierte Bilder tragen weiterhin dazu bei: Wenn Frauen mit verbundenen Köpfen fast somnambul durch Klinikgänge wandeln, schafft Petzold klirrende atmosphärische Kälte, wie Horrorstummfilmklassikern entlehnt. Überhaupt scheint jene Welt komplett aus den Fugen geraten, da reicht es zur Verdrängung erlebter Grausamkeit, bierselig zu klatschen, während zwei abgehalfterte Hupfdohlen auf einer Kleinkunstbühne schräge Töne fabrizieren, obwohl man draußen auf den Straßen unverändert tagtäglich um Essen, ein paar Groschen, pures Durchhalten kämpft.

Nelly hingegen muß keine Armut fürchten; weil ihre komplette Familie getötet wurde, lockt ein großes Erbe. Was Johnny, mittlerweile aufgefunden, ebenfalls weiß. Er erkennt seine Gattin zwar nicht, schlägt allerdings vor, die Nelly erstaunlich ähnelnde Fremde solle deren Identität annehmen, das so gewonnene Geld käme beiden schließlich nur recht. Nelly stimmt zu, heißt fortan Esther, spielt die eigene Doppelgängerin, der Gefühle wegen – und um herauszufinden, ob Lene die Wahrheit spricht: „Johnny hat Dich verraten!“

Weiß Johnny tatsächlich nicht, wer da vor ihm steht, mit bekannter Stimme redet, gar virtuos Nellys Handschrift „kopiert“? Petzold läßt es dankenswerterweise offen und schürt Unsicherheit – was geht hier eigentlich vor? Irrtum? Verrat? Eine extreme Form der Vergangenheitsbewältigung? Fakt bleibt bloß: Das darstellerische Triumvirat aus Nina Hoss’ zum Leben zurückkehrender Nelly, einem perfekt undurchsichtig agierenden Ronald Zehrfeld sowie Nina Kunzendorf als nicht vergessende, dafür schließlich den bittersten Preis zahlende Lene triumphiert ohne kleinsten Makel. Petzold begeht parallel dazu nie den Fehler, Erschütterung an Betroffenheit zu verraten, inszeniert knappste Gesten, unter deren kühler Oberfläche siedende Geysire brodeln.

Er traut sich, höchst angerechnet, dem Publikum solch’ reduzierten Erzählstil konsequent bis zur finalen Szene quasi zuzumuten, spuckt es regelrecht aus im Zuge eines nahezu wörtlich gemeinten Schwanengesangs auf das, was war. Der Effekt: Petzold und drei formidable Akteure übernehmen nach 98 Minuten die Regie des Zuschauer-Kopfkinos, welches jetzt erst richtig beginnt und lange andauert.

D 2014, 98 min
FSK 12
Verleih: Piffl

Genre: Drama, Historie

Darsteller: Nina Hoss, Ronald Zehrfeld, Nina Kunzendorf, Michael Maertens, Imogen Kogge

Stab:
Regie: Christian Petzold
Drehbuch: Christian Petzold

Kinostart: 25.09.14

[ Frank Blessin ] Frank mag Trash, Grenzgängerisches und Filme, in denen gar nicht viel passiert, weil menschliche Befindlichkeiten Thema sind. Russ Meyer steht deshalb fast so hoch im Kurs wie Krzysztof Kieslowski. Frank kann außerdem GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN mitsprechen und wird IM GLASKÄFIG nie vergessen ...