Anup Singh entwarf das Drehbuch zu seinem Film nach Motiven und Erinnerungen seiner eigenen Familiengeschichte. Sein Großvater mußte 1947 nach der Teilung Indiens durch die britischen Kolonialisten aus seiner Heimat fliehen. Den Verlust von nationaler Identität und allem Hab und Gut hatte Singhs Großvater nie verwunden, und sein Schicksal diente dem Enkel als Inspiration für die Figur des Umber Singh.
Umber ist ein stolzer Mann, ein Patriarch, der es auch nach der Flucht zu etwas bringt und wieder einen gewissen Wohlstand in der Fremde erringt. Nur eines bleibt ihm vewehrt: ein Sohn. Und Mädchen hat er nun wahrlich genug gesehen! Als seine Frau Mehar zum vierten Mal schwanger wird und ihm auch dieses Mal nur weiblichen Nachwuchs ankündigt, beschließt Umber, sich der Natur nicht zu beugen und verkündet die Geburt eines Sohnes. Kanwar, der junge Prinz, wird von ihm zum Mann erzogen und wie ein wertvoller Schatz gehütet. Aber die erste Menstruation bleibt nicht aus, und auch ganz eigene Gefühle beginnen sich in Kanwar zu regen. Interessanterweise jedoch für Neeli, ein Mädchen aus einer unteren Kaste.
Was Anup Singh in diese Konstellation hineindeuten lassen möchte, läßt im Kontext der indischen Kultur sicher eine andere Deutungsebene zu, als mit westlichem Auge wahrgenommen. Natürlich geht es um eine Betrachtung männlicher Dominanz, um traditionelle Familienstrukturen und Erbfolge. Auch um die Allmachtsphantasien des Mannes, sich „Frauen neu zu erfinden“, wie Singh zu seinem Film anmerkt.
In Indien ist Homosexualität immer noch stärker tabuisiert, auch wenn queere Lebensformen sich langsam Bahn brechen. Allein bei der letzten Wahl gab es fünf transsexuelle KandidatInnen. Die sexuelle und emotionale Beziehung von Kanwar und Neeli wird von Singh jedoch nicht wirklich ausgeleuchtet. Auch Kanwars Zerissenheit zwischen dem Rollenanspruch, ein guter männlicher Stammhalter zu sein und in einem weiblichen Körper zu stecken, der nicht sichtbar werden darf, bleibt in interessanten Andeutungen stecken.
Der Regisseur bedient sich lieber des Mystischen, dem Geist von Umber, der Kanwar schließlich zum echten Mann wandelt, um aus der Asche seiner Familie doch noch den ersehnten Sohn aufsteigen zu lassen. Damit verpaßt er die Chance, ein hochaktuelles Thema zeitgerecht umzusetzen, eine wirkliche Debatte – auch interkulturell – anzustoßen.
Originaltitel: QISSA
D/Indien/NL/F 2013, 109 min
FSK 12
Verleih: Camino
Genre: Drama, Liebe, Schwul-Lesbisch
Darsteller: Irrfan Khan, Tisca Chopra, Tillotama Shome
Regie: Anup Singh
Kinostart: 17.07.14
[ Susanne Schulz ]